Die zwölfjährige Sanne ist mit ihrer Mutter und ihrem kleinen Bruder Niko aus der thüringischen Provinz nach Ostberlin gezogen. Wieder ein Neuanfang – auf den das Mädchen absolut keine Lust hat. Ein interessanter Einblick in das Leben in der DDR im Jahr 1984, findet ANDREA WANNER.
Wenn sie wenigstens in die Pionierorganisation eintreten dürfte, aber ihre flippige Mutter lehnt das ab – wie so manches. Dafür hat sie in Ostberlin eine Wohnung besetzt, ein gängiges Vorgehen, um an knappen Wohnraum zu kommen. Sanne ist das alles zu viel. Sie wäre lieber in Thüringen geblieben, bei Ulli, dem Vater von Niko, mit dem sie sich gut verstanden hat. Aber ihre Mutter und Ulli haben am Ende nur noch gestritten und so haben sie in einer Nacht- und Nebel-Aktion ihre Koffer gepackt und sind nach Ostberlin, zu nächst zu einer Freundin der Mutter. Ihren eigenen Vater kennt Sanne nicht. Der lebt in Mosambik und weiß nicht mal, dass er eine Tochter hat. Aber die schwarzen, drahtigen Locken hat er ihr vererbt.
Ein neuer Kindergarten für den zweijährigen Niko, eine neue Schule für Sanne. Und irgendwie lässt es sich gar nicht so schlecht an, denn Silke, ihre neue Nebensitzerin, ist wirklich nett und Sanne träumt schon so lange von einer richtigen Freundin. Schulisch hat sie eh keine Probleme, sondern gehört zu den Besten. Auch Frau Kobolt, die Wohnungsnachbarin, ist sehr freundlich und hilfsbereit.
Es könnte alles gut sein, aber dann macht Sanne einen verhängnisvollen Fehler: Sie behauptet einfach, auch ein Thälmannpionier zu sein. Das passende rote Halstuch hat sie in der letzten Schule »gefunden«. Endlich gehört sie dazu, hilft den anderen, Altstoffe zu sammeln, um das Geld zu spenden und wird sogar mit der Organisation des Weihnachtsbasars der Pioniere betraut. Der Druck auf Sanne wächst, eine Lüge zieht eine weitere nach sich. Wie kommt sie aus der Nummer nur wieder raus.
Annette Herzog, Jahrgang 1960, ist in der DDR aufgewachsen und weiß, wovon sie spricht. Es sind die vielen kleinen Details – der Wunsch nach einer richtigen Jeans, die Stasi, die sogar Burda-Heften mit Schnittmustern nachgeht, die Begeisterung über Orangen, die es so selten zu kaufen gibt, die Treffen der Pioniere mit ihren Parolen und vieles andere – welche die Geschichte lebendig und zu einem lesenswerten Zeitdokument für Kinder machen.
Herzog beschönigt nicht, zeigt aber auch die positiven Seiten wie Hilfsbereitschaft und Kreativität, die in der DDR ihren Platz hatten. Vieles davon hat Maja Bohn witzig in Szene gesetzt. Und mittendrin ein zwölfjähriges Mädchen, das mutig seinen Platz im Leben sucht – und findet, ob mit oder ohne das rote Halstuch.
Titelangaben
Annette Herzog: Ein Halstuch voller Lügen
Mit Illustrationen von Maja Bohn
Bamberg: Magellan 2023
192 Seiten, 15 Euro
Kinderbuch ab 10 Jahre
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