Comic-Künstler Andreas Kiener schickt seine Leser in ›Unvermögen‹, der beim Zürcher Verlag ›Edition Moderne‹ erschien, auf eine Reise durch eine zukünftige Gesellschaft – und entwirft dabei eine Welt, bei der vor allem die Bilder gelesen werden wollen. Von JANA FEULNER
An was denken Sie, wenn Sie an eine Dystopie denken? Ich denke an eine düstere Welt. Eine Welt, in der wir uns nicht wiederfinden wollen. Ich denke an eine Gesellschaft, die in Unterdrückung lebt und einen Ort, dem jegliche Farbe gewichen ist und der nur noch aus Grau- und Brauntönen besteht. Andreas Kiener erzählt in seinem Comic »Unvermögen« eine Geschichte, die in einer solchen Welt spielt. Doch taucht er seinen Pinsel in einen pastellfarbenen Wassermalkasten und fügt seiner Geschichte damit einen gar hoffnungsvollen Unterton bei.
Die sechsjährige Ali ist seit dem Tod ihrer Großmutter allein in der Welt. Einer Welt, in der es keinen Platz für sie zu geben scheint. Zusammen mit ihrem »Shiemen-Androiden« Rob – einem großen flauschigen Roboter-Bären – gelingt es ihr aus dem Kinderheim zu fliehen und sich auf die Suche nach ihrer Mutter zu machen. Gemeinsam bewegen sich die beiden durch die bunt gezeichnete Science-Fiction-Welt und nehmen uns dabei mit. Geschickt führt Kiener durch eine von Globalisierung und Kapitalismus geprägten Welt, in eine Zukunft, wie Orwell sie zeichnen würde, doch bunter, freundlicher – jedenfalls auf den ersten Blick. Er führt uns an die Abgründe der Zivilisation und zeigt uns das Resultat eines neoglobalisierten und kapitalistischen Systems voll von Armut, Umweltverschmutzung und Korruption. Naiv läuft die kleine Ali durch diese Welt und begegnet dabei allen möglichen Gefahren. Doch ihr Beschützer Rob weicht ihr nicht von der Seite. Obwohl er als Maschine nur seinem Protokoll folgt, wenn er Ali hilft, wirkt er menschlicher als viele der Menschen, denen Ali auf ihrer Reise begegnet.
Sprechende Bilder
Nur kurze Dialoge, dafür große, aussagekräftige und detailreiche Bilder führen durch die Geschichte. In »Unvermögen« sprechen Bilder mehr als tausend Worte. Wir werfen einen Blick in eine Zukunft, die so ganz anders ist, als die meisten von uns sie sich vorstellen würden. Wie durch die Augen eines Kindes – durch Alis Augen – sehen wir die Welt. Wir erfahren die Geschichte durch genaues Hinsehen, durch das Finden von Details. Wir entdecken den Schriftzug »Congrats! You’ve won capitalism!« irgendwo an einer verlassenen Autobahnbrücke in der Impression einer Landschaft, die in rosa und gelbe Farbe getunkt wurde. Wir sehen verlassene Apartments, Menschen, die im Müll leben und auf der anderen Seite große futuristische Großstädte mit himmelhohen Gebäuden, die mit Werbetafeln umkleidet sind.
In ›Unvermögen‹ ist die Botschaft zwischen den Zeilen – oder zwischen den Sprechblasen – versteckt und wartet darauf, entdeckt zu werden. Als wäre die Reise der kleinen Ali nur ein Vorwand, um uns diese schöne neue Welt vorzuführen und uns, für die Dauer des Comics, Teil von ihr werden zu lassen. Die kleine Ali ist dabei nicht die typische Dystopie-Protagonistin, die versucht die Welt zu verändern. Sie ist als stille Beobachterin unterwegs, mit einer einzigen bescheidenen und rührenden Mission: ihre verlorene Mutter wiederzufinden.
An der Grenze des Vorstellungsvermögens
Dabei werden viele Dinge von Kiener nur angedeutet und nicht ausformuliert. So auch das Geheimnis hinter dem Verschwinden von Alis Mutter. Die Geschichte endet in dem Moment, in dem die Antworten zu unseren – und Alis – Fragen zum greifen nahe scheinen. Doch lässt uns das Ende mit mehr Fragen zurück, als es zu beantworten vermag.
›Unvermögen‹ ist die Impression einer möglichen Zukunft. Kiener umreißt dabei eine mögliche Wirklichkeit, die uns an die Grenzen unseres visuellen Vorstellungsvermögens führt, und erschafft eine Welt, die auf den ersten Blick in dem harmonischen Farbschema einer Utopie daherkommt, sich jedoch auf den zweiten Blick als Dystopie entpuppt. Durch diese fröhlich-bunte, doch überraschend harsche Welt nimmt Kiener uns in seinem Comic-Buch mit und lässt die wirkungsvollen Bilder wie einen Kinofilm vor unseren Augen vorüberziehen und in unserem Unterbewusstsein noch lange nachwirken. ›Unvermögen‹ ist ein Comic-Buch, das bleibt.
Titelangaben
Andreas Kiener: Unvermögen
Zürich: Edition Moderne, 2021
160 Seiten, 32 Euro