Bewusstsein für imaginäre Welt

Kurzprosa | Hartmut Lange: Am Osloer Fjord oder der Fremde25

»Der Mensch hat die Fähigkeit, die eigene und sonstige Natürlichkeit gedanklich zu übersteigen, das heißt, er hat ein Bewusstsein, und dieses Bewusstsein schafft eine imaginäre Welt und richtet sich danach aus«, heißt es im essayistischen Nachwort des neuen Novellenbandes Am Osloer Fjord oder der Fremde aus der Feder von Hartmut Lange. Von PETER MOHR

Auch in seinen neun neuen Texten betätigt sich der inzwischen 85-jährige »ungekrönte König« der philosophischen Gegenwartsnovelle wieder als Grenzerkunder zwischen Unterbewusstsein und anspielungsreicher Fremd-Determination, zwischen aufgewühlten Emotionen und kühler Rationalität.

»Nicht in der Wahrheit, sondern in der Täuschung werden die Untiefen der Existenz berührt«, hatte der Dozent Wernigerode in Hartmut Langes Band „Der Therapeut“ (2007) erklärt. Ist dieses Bekenntnis der literarischen Figur eine Art Schlüssel zum stets etwas rätselhaften Werk des Berliner Autors?

Es sind wieder einmal die auf den ersten Blick lapidar erscheinenden Alltagsbeobachtungen, die in den Figuren einen geheimnisvollen Impuls auslösen. Ein Schriftsteller in mittleren Jahren wird von einer Schreibblockade heimgesucht. Er beobachtet eine Frau im gegenüberliegenden Haus, wähnt auch sie als Beobachterin. Oder hat er sich all dies nur eingebildet? Eine Konstellation, die stark an Dürrenmatts Novelle »Der Auftrag« (1986) erinnert, die den Untertitel »Vom Beobachten des Beobachters der Beobachter« trägt. Er fasst sich ein Herz, überquert die Straße und erhält an besagtem Haus die Auskunft, dass die betreffende Wohnung wahrscheinlich schon länger unbewohnt sei. Die Kreativkrise geht weiter: »Solange ich nicht weiß, ob das, was ich dort drüben sehe, der Wirklichkeit geschuldet ist, kann ich nichts darüber schreiben, dachte er.«

Eine typische Lange-Figur – Individuen, deren ausgeprägte Beobachtungsgabe (bisweilen sind es auch traumhafte Imaginationen oder eine Mischung aus beidem) oft das Seelenleben in Turbulenzen versetzt. Aus dem Nichts heraus wird Unbehagen oder sogar handfeste Ängste evoziert. Stimmungen, von denen der Leser eingefangen wird. »Und doch war ich in der Lage, wenn auch nur schemenhaft, den Umriss einer Person zu erkennen«, heißt es in der den Band einleitenden Titelgeschichte. Norwegens Hauptstadt Oslo, wiederkehrender Ort im Büchlein, erhält einen gespenstisch finsteren Anstrich – nicht zuletzt als »Heimat« von Edvard Munchs weltberühmtem Gemälde »Der Schrei«, das als »Sinnbild für Angst, Furcht, Zittern und die Krankheit zum Tode« bezeichnet wird.

An anderer Stelle kommt ein Museumsbesucher mit einer Frau auf einem Gemälde ins Gespräch, und ein Baum wehrt sich gegen seine Abholzung. Da ist Hartmut Lange wieder in seinem dichterischen Element, wandert durch das unwegsame Terrain der menschlichen Seelen und gewährt uns (unbedarfte) Leser schaurige Einblicke.

Mit seiner schlanken, aber höchst präzisen, manchmal etwas altbacken wirkenden Sprache fasziniert Lange seit nun vierzig Jahren, seit Erscheinen seines Romans Die Selbstverbrennung. Scheinbar unerklärliches menschliches Handeln, irrationale Obsessionen und rätselhafte Ausbrüche aus dem geregelten Alltag – das sind wiederkehrende Motive in Hartmut Langes kleinen Büchern, die nur auf der Waage das Nachsehen gegenüber opulenten Romanen haben. 40 Jahre Prosa auf allerhöchstem Niveau. Passend dazu ist jüngst für alle Hartmut Lange-Fans ein lesenswertes, erklärendes Werk aus der Feder des Kölner Rundfunkredakteurs Jan Drees erschienen.

| PETER MOHR

Literaturangaben
Hartmut Lange: Am Osloer Fjord oder der Fremde
Zürich: Diogenes 2022
103 Seiten. 22 Euro
| Erwerben Sie diesen Band portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe
| Mehr zu Hartmut Lange in TITEL kulturmagazin

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Genau richtig

Nächster Artikel

Rekordverdächtig!

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Mosaikstein der Kulturgeschichte

Kurzprosa | Arno Schmidt: Der Briefwechsel mit Max Bense

Arno Schmidt war kein einfacher Zeitgenosse, aber einer der avanciertesten und kritischsten Autoren seiner Zeit. Mit vielen Autoren und Intellektuellen war er befreundet, mit einigen arbeitete er zusammen. Die Arno-Schmidt-Stiftung publiziert in schöner Regelmäßigkeit die wunderbar edierten und kommentierten Briefwechsel, etwa mit Alfred Andersch oder Eberhard Schlotter. Als sechster Band ist jetzt der Briefwechsel mit dem Philosophen Max Bense erschienen, in dem sich Schmidts einmal für die »vielen unleserlichen Postkarten« bedanken. GEORG PATZER hat den Briefwechsel gelesen.

Auf der Suche nach Robinson Crusoe

Kurzprosa | Jonathan Franzen: Weiter weg 21 recht unterschiedliche Texte vereinen sich in Jonathan Franzens Essayband Weiter weg, und doch verbindet sie fast alle etwas miteinander – die Gedanken an den 2008 verstorbenen Freund und Autor David Foster Wallace. Aber auch die Liebe spielt eine Rolle, die Liebe zur Literatur, zu einer Frau oder zu Vögeln (Franzens große Leidenschaft). Der Autor gewährt tiefe Einblicke und lädt ein, über sich und das Leben zu reflektieren. Von TANJA LINDAUER

Eine gemischte Biografie

Menschen | Monika Maron zum 75. Geburtstag Zum 75. Geburtstag von Monika Maron (am 3. Juni) erscheint der Band Krähengekrächz. PETER MOHR gratuliert der Schriftstellerin.

Übergänge

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Krähe

Wir dürfen die Übergänge nicht geringschätzen, Krähe, keineswegs. Ich weiß nicht, wie es dir geht mit Übergängen, zum Beispiel wenn du aufwachst, reibst du dir die Augen und streckst die Beine, bevor du aufstehst? Es ist wichtig, den Übergang in den Tag nicht zu verpassen, du mußt den treffenden Zeitpunkt erwischen, sonst wird das wird nicht dein Tag werden.

Not

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Not

Was sie nicht länger verbergen können, Anne, ist ihre Ratlosigkeit, denn wer mit offenen Augen durch den Tag gehe, könne das Menetekel nicht übersehen.

Manche Worte haben sich aus der Alltagswelt verabschiedet, die Sprache schaltet auf Schwundstufe.

Tilman rückte ein Stück näher an den Couchtisch und suchte eine schmerzfreie Sitzhaltung einzunehmen.

Dämonische Kräfte?

Mehr, weit mehr, Anne, ihr Tun hat radikal destruktive Konsequenzen, schon dem äußeren Anschein nach wendet der Planet sich gegen den Menschen, du siehst es überall, sei es in den lodernden Flächenbränden oder den lebensfeindlichen Veränderungen des Klimas, der Planet entzieht uns das Aufenthaltsrecht, Mutter Gaia hatte Geduld gehabt und einen langen Atem, nun war es genug, ein Tropfen bringt das Faß zum Überlaufen.