Ein Schlüssel für ganz besonderes Sehen

Sachbuch | Manfred Kriegelstein: Die Schönheit des Vergänglichen

Mehr als tausend Preise und Auszeichnungen hat er bekommen, Autodidakt ist er, leitet Fotoworkshops und Seminare, ist auf internationalem Parkett ebenso bekannt wie in Deutschland, ein Profi wie kein anderer, der Berliner Manfred Kriegelstein. Neugierig geworden? Diese Neugier kann höchsten noch vom Thema des attraktiven Buches übertroffen werden, dem Morbiden, dem Vergänglichen, dem Zerfall. BARBARA WEGMANN hat sich das Buch angeschaut.

Ein Kleiderhaken, der an einer rissigen Wand hängtKriegelstein macht gleich zu Beginn des Buches klar: Die »Schönheit des Vergänglichen« ist etwas Anderes als zum Beispiel eine Sommerlandschaft mit spazierenden Menschen oder eine Zuschauermenge im Fußballstadion zu fotografieren. Bildet man hier Stimmung und Atmosphäre ab, setzt Situationen »gut ins Bild«, so muss der Fotograf bei Vergänglichem, Morbiden »etwas sichtbar machen, das man sonst nicht sieht«. »Ich bringe immer gern das Beispiel mit der Besucherin einer meiner Ausstellungen. Während sie von der Ästhetik der Bilder begeistert ist, würde sie wahrscheinlich schreiend weglaufen, wenn ich sie an den Ort meiner Bilder bringen würde.« Umsetzung ist die Herausforderung, die »fotografische Transformation«, aus Hässlichem Schönes zu machen, eine Situation zu interpretieren, auf die Suche nach doch noch Ästhetischem zu gehen. »Dieses Sich-Einlassen auf das Bild, das man sucht, ist natürlich höchst spezifisch.«

Es sei eine Frage des subjektiven Sehens, so Kriegelstein, denn letztlich könne man wunderschöne Korallenriffe schwerer finden als Hässliches, das überall zu finden sei. Ob es verlassene Gebäude, Ruinen, alte Industrieanlagen, die von früheren Zeiten erzählen, heruntergekommen, verrottet, verfallen sind, oder eine Seerosentapete, die trotz all der Flecken durch Pilzbefall die alte Schönheit noch erkennen und vermuten lässt, eine alte Puppe vom Trödler, mit Rissen und Narben im Gesicht, es ist immer dieses Ergebnis: »Die mystische Wirkung verdankt das Bild natürlich der anschließenden Nachbearbeitung mit überlagerten Ebenen.« Das geschulte Auge hat das Motiv gefunden, der Fotograf macht es sichtbar.

Das Buch mit seinem absolut spannenden Thema nimmt mit auf eine geheimnisvolle und erkenntnisreiche Reise. Kriegelsteins Bilder erzählen, berichten, dokumentieren und lassen teilhaben an der Vergangenheit, an Schicksalen, an früherer Lebendigkeit. Die Suche nach Motiv, die Perspektive, das Licht, der richtige Moment und die Bearbeitung werden zu einer erlebnisreichen Arbeit, es entsteht ein Bild, das fotografisch hochgradig interessant ist, eine künstlerische Arbeit, zweifelsohne, aber: Da ist auch eine Geschichte, da ist ein Sog, in den der Betrachter hineingezogen wird. Der Schönheit dieser Vergänglichkeit kann man sich einfach nicht entziehen.

Berlin Kreuzberg, so erzählt der Fotograf in einem Interview, sei für ihn zu Begin seiner Karriere geradezu eine Fundgrube gewesen, unbewohnte Häuser, heruntergekommene Innenräume, die Einsamkeit leerstehender Wohnblocks, die Zeit, die stillstand.

Die durchgehende, sehr anschauliche Bebilderung wird vom Autor genau und sehr persönlich erklärt. Infos zu Hintergrund und Entstehung des Bildes gibt es dazu. Da ist eine alte Zeitung, mit der Wände beklebt wurden und aus dieser »Tapete« wuchert feines Wurzelgeflecht, ‚das sich zwischen Wand und Tapete ausgebreitet hat. »Welch ein Beispiel für die regenerative Kraft der Natur!« Zerfallene Schriften, verblasste Werbeschilder, eine abgebrannte Telefonzelle, eine Wand in irgendeiner Stadt, auf der »immer wieder Plakate überklebt und teilweise abgerissen wurden- wie eine Collage eines Künstlers.« Überall lauert die »Schönheit des Vergänglichen«. Einen unendlichen Fundus dieser Art, so Kriegelstein finde man nicht nur in Trödelläden beispielsweise, sondern auch in jeder Großstadt. Und letztlich wird selbst ein Schimmelfleck mit Kriegelsteins Kamera zu einem Bild, das aussieht, als wäre es eine »Wüstenlandschaft, in der gerade ein Sandsturm auftritt.«

Jede Seite und von Seite zu Seite mehr und stärker, ist und wird das Buch zu einer Motivation, es schult das persönliche Auge und Sehen, das Erkennen und Entdecken, wird letztlich zu einem Schlüssel für ganz besonderes Sehen, tatsächlich: So wirkt das ausgesprochen einnehmende Buch! Fotografie bedeute Subjektivieren der Umwelt, sagt der Profi. »Diese persönliche Interpretation ermöglicht eben, etwas sichtbar zu machen, das man normalerweise nicht sieht.«

| BARBARA WEGMANN

Titelangaben
Manfred Kriegelstein: Die Schönheit des Vergänglichen
Morbides ästhetisch fotografieren
Heidelberg: Dpunkt.verlag 2023
252 Seiten, 44,90 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Die Qual der Wahl

Nächster Artikel

Unaufhaltsam

Weitere Artikel der Kategorie »Sachbuch«

Wein & Krieg

Kulturbuch | D./P. Kladstrup: Wein & Krieg

Don & Petie Kladstrup sind keine Dänen, sondern sympathisch-liebenswerte US-Amerikaner, die als Journalisten schon lange in Paris und der Normandie leben und über Wein schreiben, obwohl ihnen ja der Calvados näherliegen müsste. Von WOLFRAM SCHÜTTE

Arbeiten? Nicht arbeiten?

Gesellschaft | David Graeber: Bullshit-Jobs Das Thema ist originell, das ist gar keine Frage, und man wartet schon seit langer Zeit darauf, dass die vielen überflüssigen Arbeitsabläufe in staatlicher Bürokratie und im Management privater Unternehmen einmal systematisch erfasst werden. Von WOLF SENFF

Licht, Lektüre und Latrinen

Kulturbuch | Irene Vallejo: Papyrus

Irene Vallejos beeindruckendes Mammutwerk Papyrus ist eine leidenschaftliche Hommage an die Welt der Bücher – und an die Menschen, deren Wirken untrennbar mit ihnen verbunden ist: Autoren, Dichter und Kopisten, Buchhändler und Bibliothekare, Philosophen und Wissenschaftler, Kaiser und Feldherren – und nicht zuletzt Leser. Eine spannende Kulturgeschichte über das Schreiben, Lesen und Bewahren in vergangenen Epochen. Von INGEBORG JAISER

Für immer geschlossen

Kulturbuch | 169 Jahre Grotemeyer

Ich habe zunächst überlegt, ob das Buch, das ich vorstellen möchte, nicht zu regional ist, aber: Manchmal liegt im Regionalen ja auch die ganze Welt. Das Kaffeehaus Grotemeyer in Münster, das nach 169 Jahren für immer nun geschlossen bleibt, es steht in der Tradition der alten Kaffeehäuser, die man schnell mit den österreichischen Originalen in Verbindung bringt, es gibt sie aber auch hier, oder besser, es gab sie. Da kommt – so meint BARBARA WEGMANN – schon etwas Melancholie auf.

Visionäre Internetromantik

Gesellschaft | A. Pschera: Das Internet der Tiere | N. Heißmann: Das geheime Wissen der Tiere Klar, es gibt diesen Typus Mensch. Wenn es ihm besonders schlecht geht, setzt er seine letzte Hoffnung auf den Lottogewinn. Was da real abläuft? Wir nennen das Vogel-Strauß-Politik. Oder hat er etwa eine Vision? Aber mal eines nach dem anderen. Von WOLF SENFF