/

Umstände

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Umstände

Das werde sich wie von selbst erledigen, sagte Tilman, kein Grund sich aufzuregen, eine monströse Blase sei im Begriff zu platzen, im günstigsten Fall halbwegs geräuschlos zu platzen, seht hin, und mir nichts, dir nichts sei die Luft heraus, so etwas gehe schnell heutzutage.

Meine Güte, sagte Farb und tat sich eine Pflaumenschnitte auf.

›Follower‹ nennen sie sich und ›Influencer‹, spottete Annika, und ob sie ›Follower‹ hätten, fragte sie Tilman und Farb, nein, woher denn, sie wisse das nicht, außerdem seien diese Zeiten längst wieder vorbei, fügte sie hinzu, der Wind habe gedreht, nur daß die es gar nicht gemerkt hätten, sie hielten fest an ihrer Spaßgesellschaft, ich will immer auf dich warten.

Farb lachte. Die Zeiten seien halt schnellebig, sagte er, die Trends würden gewechselt wie die Socken, sagte er, jeder Weg hat mal ein Ende, eben noch waren die Trends medial aufgeblasen und seien doch aus der Welt gefallen, ehe man sich’s versah, ein Wimpernschlag, seien rückstandsfrei zurück geblieben, verloren, als ob es sie nie gegeben hätte, und täglich werde eine neue Sau durchs Dorf getrieben.

So geht’s, sagte Annika, was sei als nächstes zu erwarten.

Da bleibe nicht viel, sagte Farb, wer wisse das schon, überall Trara und Bohei, täuschend, zuckersüß, doch die Realität breche hervor, sagte er, der mühselige Alltag, der Mensch zeige sich überrascht, großes Unwetter hier, großes Unwetter dort, Flüsse träten über ihre Ufer, Land unter wie nie, Erdrutsche, Schlammlawinen, Straßen seien nicht länger befahrbar, nein, auch von selbstfahrenden Autos nicht, er lachte amüsiert, diese größenwahnsinnige Nummer sei von vorgestern, ihre Träumer hätten ausgedient, wer bringe es ihnen nun bei, die Luftschlösser hätten sich aufgelöst, keine Arbeit für ChatGPT und nicht für KI, heute herrschten Stromausfälle, klirrende Kälte, die Marsflüge seien storniert, vergessen, ehe man sich’s versieht, vom Winde verweht, jetzt müßten Sandsäcke gefüllt, die Fußkranken evakuiert werden, eine Zivilisation drohe zu erfrieren, wahlweise in den Fluten zu ersaufen, und gleich nebenan sei es ähnlich, da gehe sie in Flammen auf.

Annika schwieg und griff zu ihrem Reisemagazin. Ob sie nicht eine vierte Person einladen sollten, überlegte sie, wenn sie zu viert wären, könnten sie Doppelkopf spielen.

Farb tat sich einen Löffel Schlagsahne auf.

Was danach komme, sagte Farb, wer wisse das schon, die Zeichen deuteten auf nichts Gutes, nein, man lese heute nicht mehr aus dem Vogelflug und suche den Willen der Götter zu ergründen, das sei zwar eine subtile Methode gewesen, intellektuell grundiert, deutungsoffen, heutzutage jedoch seien die Umgangsformen direkt, man lebe in der Informationsgesellschaft, man nehme kein Blatt vor den Mund und meine dennoch den richtigen Ton zu treffen, nur keine Umstände, der Mann inszeniere sich gern als einen Mann der Tat, entschieden, zuversichtlich, hart zupackend und stets bemüht, den Nagel auf den Kopf zu treffen, die Frau sei vorzugsweise präsent in ihrer Weiblichkeit, direkt, bitte keine Umstände, nein, das sei Kultur der Moderne, der Geist dieser Zeit.

Eher wohl der Ungeist, spottete Annika.

Tilman lächelte.

Wer Augen habe, dem werde das nicht entgehen, sagte Farb, bitte keine Umstände, sagte er, Umstände seien hinderlich, die Flußläufe seien begradigt, die Äcker seien gedüngt, die Wälder unterlägen den Prinzipien der Holzwirtschaft, bitte zügig, nur keine Umstände, dem Fischfang seien Quoten zugeteilt, Kühe mutierten zu Milchlieferanten, Schweine würden für den Verzehr gemästet, für alles sei gesorgt, die Dinge würden korrekt beim Namen genannt, keine Pause, um nachzudenken, der leiseste Zweifel sei hopp hopp ausgeräumt, wie werde das enden.

Annika blätterte in einem Reisemagazin.

Der Natur würden Zügel angelegt, die Gier des Menschen sei unerschöpflich, sagte Tilman und warf einen verträumten Blick zum Gohliser Schlößchen.

Wie bitteschön werde all das enden, wiederholte Annika, und ob es nicht angebracht sei, dem analogen Denken wieder zu seinem Recht zu verhelfen.

Farb lächelte, die Realität bahne sich einen Weg an die Oberfläche, sagte er, die Naturgewalten kämpften sich frei, Ketten würden krachend bersten, die zehrende Mühsal der Ebene melde sich zurück, die Feuerwehrleute seien gefragt, die Brände zu löschen, die Sanitäter, sich um die Verletzten zu kümmern, die Handwerker, die Zerstörungen zu beheben, die Polizisten, für ordnungsgemäße Abläufe zu sorgen, das sei Lage der Dinge, und nein, was Brandbekämpfung und Hochwasser angehe, bestünde keine Aussicht auf innovative Technologien, null, nada, woher auch, im Gegenteil, man müsse sich auf herkömmliche Methoden besinnen.

Geo-Engineering, ergänzte Farb, das sei wieder ein Projekt humanen Größenwahns, das mancherorts von ehrgeizigen Ingenieuren umgesetzt werden und massiv Schaden anrichten werde, und tat sich ein zweites Stück von der Pflaumenschnitte auf.

| WOLF SENFF

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Bomben gegen die Gleichgültigkeit

Nächster Artikel

Der lange Weg zu sich selbst

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Gefühl

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Gefühl

Das Rauschen des Ozeans klang wie von ferne zur Ojo de Liebre herüber.

Eldin legte einen Scheit Holz ins Feuer.

Keine Ahnung, sagte Gramner, der Mensch der Moderne habe keine Ahnung, null, er stehe sprachlos vor einem Abgrund, man finde kaum eine andere Epoche, während der der Mensch dermaßen blind gewesen sei.

Der Ausguck stand auf, tat einige Schritte, löste sich in die Dunkelheit auf und schlug einen Salto.

Im Lauf der Zeit

Kalender | Literaturkalender 2021

Alles fließt (dahin) – Wochen, Monate, Jahreszeiten. Was könnte uns verlässlicher Halt und Orientierung bieten als Kalender? Unterlegt mit der passenden Dosis Literatur, mit anregenden Zitaten, aufmunternden Gedichten und spannenden Ausblicken auf bislang Unbekanntes erscheint das kommende Jahr schon greifbar nah. INGEBORG JAISER stellt einige empfehlenswerte Literaturkalender vor.

Träume

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Träume

Das Löschwasser sei ihnen ausgegangen, sagte Farb.

Beispiellos, sagte Wette.

Farb tat sich eine Pflaumenschnitte auf.

Tilman reichte ihm einen Löffel Schlagsahne.

Grenzwertig sei, sagte Wette, was sich dort abspiele, man müsse das verstehen.

Annika legte ihr Reisemagazin beiseite.

Ein Menetekel, sagte Farb.

Lakota

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Lakota

Er habe nicht verstanden, sagte Harmat, was mit den Lakota geschah, sie führten diverse Prozesse, die sich über Jahrhunderte hinzogen?

Nachdem die ersten Immigranten eingetroffen waren, sagte Gramner, nach Westen aufbrachen und das Land kolonisierten, formierte sich in Nordamerika eine räuberische Nation, die Immigranten nahmen das Land in Besitz, auf dem die ursprünglichen Einwohner, die First Nations, lebten, und ließen allein ihr eigenes Recht gelten.

Die Einwohner, fragte LaBelle, mußten sich den Gesetzen der Immigranten fügen?

Das stellt die Welt auf den Kopf, sagte Crockeye.

Eldin legte einen Scheit Holz ins Feuer.

Der Ausguck stand auf, ging einige Schritte und löste sich in der Dunkelheit auf.

Das Gespräch stockte.

Termoth Sinn

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Termoth Sinn

Was lebt, sagte Termoth, was wächst, was blüht, was welkt – alles sei verwurzelt im Sinn, sagte er, wenngleich, sagte er, der Sinn ein leerer Begriff sei, und zwar aufgrund seiner Beliebigkeit. Es gebe, sagte er, zahlreiche Versionen der Sinnhaftigkeit, sei's drum, sagte er, jedoch es zähle allein, daß ein Geschöpf die Sinnhaftigkeit spüre, sie empfinden könne, das sei der Kern, versteht ihr.