Farb

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Farb

Die Tage vergingen, als wäre nichts geschehen, als wäre Farb noch präsent, als wäre alles wie gehabt, nach dem Frühstück bevölkerte sich der mit einer mannshohen Plane umsäumte Strandabschnitt, die Dänen trafen wie üblich gegen halb zehn von ›Cesar’s Palace‹ ein und besetzten ihre Liegen neben dem massiven Felsblock.

Belten war vor einigen Tagen abgereist, er hatte drei Wochen auf Thailand gebucht, der Aufenthalt in En Bokek bekam seiner Haut, aber das Lager machte ihn kirre, war er nicht von Anfang an distanziert aufgetreten, und insgeheim stimmte er Farb zu, der lieber von einem Ghetto sprach anstatt von einem Lager – Belten hatte Mühe, Ruhe zu bewahren, und die tägliche Anfahrt vom eine Meile südlich gelegenen ›Nirvana‹ wurde ihm lästig.

Lagerkoller, diagnostizierte der Schachspieler, auf Farb gemünzt, und war sich mit den übrigen vom ›Tsell Harim‹ einig, mit Maurice aus Maastricht, Rainer aus dem Fränkischen und Lassberg aus Leipzig, allein Peter aus Thüringen zögerte mit einem Urteil, Vladimir aus Augsburg lag vor seinem Ventilator und beteiligte sich eh nicht an ihren Gesprächen.

Nein, es ging nicht um Belten aus Uelzen, wo es den Hundertwasser-Bahnhof gibt, Belten wußte, was er tat, er war Herr seiner Sinne, sondern um Farb, der – wir erinnern uns – im Zusammenhang des Suizids im ›Moriah Gardens‹ zu großer Form auflief, weil er für Nachrichten zuständig war, er hatte sich angewöhnt, Zeitungen im Lager zu vertreiben, hatte Ansprechpartner gefunden, ein rudimentäres Vertriebsnetz etabliert, tauschte eine je neu verfügbare Zeitung oder eine Illustrierte gegen ein ausgelesenes Exemplar ein und wehrte sich gegen die Etikettierung des Suizids als Fake, dahinter, sagte er, stecke das Hotel, das alle Aufregung unter den Teppich kehren wolle, ein guter Bekannter aus dem ›Moriah Gardens‹ habe ihm das bestätigt – es gibt Charaktere wie Farb, ständig sind sie auf Betrieb geschaltet, Stillstand wäre ihr Tod, sie stehen unter Strom, so einer war Farb, du kannst darüber nicht reden mit ihm, vermutlich hatte man ihm deshalb diesen Aufenthalt verordnet, und folglich sprach er vom Ghetto.

Die Freunde sorgten sich, Farb habe sich seit Tagen nicht blicken lassen.

Er werde auf der Dachterasse des ›Carlton‹ sein, sagte Maurice.

Und dort seine Zeitungen vertreiben, fragte Rainer.

Nie im Leben, niemals, sagte der Schachspieler, Farb hat seinen Lebensmittelpunkt hier im Lager, er ist unsere Nachrichtenzentrale, der Schachspieler lächelte, und es müsse sich etwas Gravierendes ereignet haben, daß er den Platz im Lager verlasse.

Er habe ihn im Zentrum gesehen, sagte Setzweyn, von woher kommt jetzt Setzweyn, und ja, sagte Setzweyn, doch, Farb sei einige Tage auf der Dachterrasse gewesen, die Aufregung um den Suizid im ›Moriah Gardens‹ habe ihm zugesetzt, er sei die dritte Woche am Salzmeer, da hinterlasse die Hitze deutliche Spuren, niemand bleibe verschont, man sei dünnhäutig und stecke so etwas nicht mehr locker weg.

Er wird trinken, vermutete Maurice.

Setzweyn, was schwätzt er daher, und wer in drei Teufels Namen sei dieser Setzweyn, wo habe er gebucht, er sei ein Irrläufer, er gehöre nicht hierher.

Das werde schwierig sein, sagte Maurice, Farb sei rastlos, sei unbeständig, er habe während seiner ersten Tage bis spät in der Bar gesessen und brauchte lange, sich einzugewöhnen.

Ein Rückfall, konstatierte Setzweyn.

Nein, ausgeschlossen, was geht hier vor, es gibt keinen Setzweyn, und falls doch, so spiele er in einer anderen Erzählung, vielleicht daß er der Zwilling von Nahstoll sei, ich komme bei Gelegenheit darauf zurück, die Dinge müssen ihre Ordnung haben, am Salzmeer sei definitiv kein Platz für Setzweyn, unmöglich, gelte für das Lager denn keine Einlaßkontrolle, Setzweyn müsse sich eingeschlichen haben, weshalb, niemandem sei gestattet, eigenmächtig dazwischenzufunken.

Man müsse sich kümmern um Farb, erinnerte der Schachspieler, daß er nicht etwa strande am Salzmeer, sich ziellos durch die verbliebenen Tage quäle, jeder einzelne Tag sei kostbar, keine Stunde dürfe achtlos verstreichen, nicht eine, die Zeit sei eine zarte Blüte, man müsse sich kümmern um Farb.

Er werde, sobald Mittag sei, im Zentrum eine Suppe essen und sich nach Farb umschauen, sagte Maurice.

Setzweyn schwieg. Er fühlte sich wohl, die Temperaturen behagten ihm, er war gespannt auf sein erstes Bad im Salzmeer, man treibe, hieß es, entspannt an der Oberfläche, was hatte ihn ausgerechnet in diese Einöde verschlagen und für wie lange, in die Negev, in dieses Lager, wurde er denn nicht von der Karttinger seit Tagen in der Vendée erwartet, doch die Menschen am Salzmeer wirkten verträglich, wo findest du das heutzutage, er könnte es aushalten.

| WOLF SENFF
| Titelfoto: Grand Parc – Bordeaux, France from France, Désert Negev – Israel 07-2012 (7656959522), CC BY-SA 2.0 (Crop)

Weiterlesen | Wolf Senff: Eine offene Wunde

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