Wie flüssiger Rauch

Roman | Rike Richstein: Die Farben des Sees

Die Farben des Sees wandeln sich jeden Tag, jede Stunde, je nach Wetterlage, Lichteinfall und Standpunkt. Jeder Betrachter nimmt aus seinem Blickwinkel andere Facetten wahr. Auch ein angemessenes Gleichnis für den zweiten Roman der in Konstanz lebenden Autorin Rike Richstein.  Ihre poetische Hommage an das Schwäbische Meer und die Menschen an seinen Ufern setzt einer Familiengeschichte einige neue Nuancen hinzu. Von INGEBORG JAISER

Zu den beliebten Themen der Weltliteratur gehört die Rückkehr in den Schoß der Familie, ins verlassene Elternhaus oder die alte Heimat, auch wenn der Anlass nicht immer ein erfreulicher ist. Unglücks- und Todesfälle zählen dazu, aber zuweilen auch eine unverhoffte Erbschaft. Oft wird der Heimkehrer mit ambivalenten Gefühlen und unbequemen Wahrheiten konfrontiert. Doch Rike Richstein variiert dieses Motiv noch um eine zusätzliche Wendung der Perspektive.

Zeitreise zurück

Seit 20 Jahren ist Matilda nicht mehr am Bodensee gewesen, früher Sehnsuchtsort und Kulisse ihrer Kindheitsferien. Nun hat sie nach dem Tod ihrer Großmutter Enni überraschend deren Haus geerbt. Am Ende der Sommersaison und mit genügend abbaubaren Überstunden im Zeitkonto reist die liebeskummerkranke Enkelin zur Ablenkung an den See. Schon beim Betreten des in die Jahre gekommenen, altersschwachen Hauses blitzen Erinnerungen auf, die bei der Lektüre fühlbar überspringen: Man glaubt das Surren der Leuchtstoffröhren zu hören, erschrickt über das plötzlich erloschene Kellerlicht, fühlt die am groben Rauputz aufgeschürfte Haut.

Ziellos streunt Matilda durch den Ort und über das Anwesen. Dabei findet sie in einer Schublade eher zufällig das Foto eines unbekannten Mannes, dessen Name auf der Rückseite handschriftlich vermerkt ist: Hans Wells (eine heimliche Reminiszenz an einen vielleicht inspirationsgebenden Schriftsteller mit demselben Nachnamen?) Die Suche nach dem Fremden führt zu einem verblassten Abschnitt der Familiengeschichte. Erklärt sich jetzt das plötzliche Ende der einstigen Ferienrituale?

Alle Schattierungen von Blau

Behutsam und leichthändig verwebt die Autorin Rike Richstein Zeitebenen und Beziehungen. Wer hier allerdings nach einem spannenden Plot oder einer actionreichen Handlung sucht, wird nicht fündig werden. Viel eher liegt der Charme des Romans in den atmosphärischen Schilderungen, ruhig und kontemplativ, als wären es Stilleben oder filmische Standbilder. Jeder Bodenseeanwohner oder -besucher wird die wechselvollen Ausblicke aufs Wasser und ungeahnten Wetterumschwünge kennen. Die Nuancen und Stimmungen des Sees ändern sich jeden Tag.

Im Roman schwelgen die Beschreibungen in schillernden Schattierungen und Aggregatzuständen, als würde man einen Malkasten aufklappen: der See changiert zwischen »türkis mit einem Schuss Flaschengrün«, »schiefergrau« und »petrol«, gleicht mal »Glanzpapier«, mal »flüssigem Rauch«, um dann wieder dumpf wie ein »großes, schlafendes Tier« zu atmen. Eine glückliche Hand hat der in Konstanz ansässige und auf regionale Themen spezialisierte Verlag Stadler bei der Wahl der Buchgestaltung und -ausstattung bewiesen. Das Cover (nach einem Gemälde des noch unbekannten Künstlers Jurij Frey) übersetzt das Fluidum und Flair des Romans in eine bildhafte Sprache. Wer es zeitgeistiger mag: Die Farben des Sees haben auch einen eigenen Instagram-Account.

Mit ihrem zweiten Roman ist der 1995 geborenen und bereits mit einigen Preisen ausgezeichneten Nachwuchsschriftstellerin Rike Richstein eine herzerwärmende Hommage auf die Bodenseeregion gelungen, die vermittelt, wie sehr eine Landschaft seine Anwohner prägt. Alle Figuren des Romans tragen Namen, die sorgsam erwähnt werden – nur der genaue Ort der Handlung bleibt anonym, als wolle man die Vorstellungskraft der Leser nicht antasten. Konstanz oder Lindau könnte es sein – oder irgendwo dazwischen. Doch ist der heimliche Held dieses Romans nicht der See?

| INGEBORG JAISER

Titelangaben
Rike Richstein: Die Farben des Sees
Konstanz: Stadler 2023
220 Seiten. 22.- Euro
| Erwerben Sie diesen Band portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Fast wie die Queen

Nächster Artikel

Irrtümer

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Jesus besucht Berlin

Roman | Michael Kumpfmüller: Mischa und der Meister

»Worum wir dich bitten, ist, dass du Jeschua für ein paar Tage begleitest. Er wird demnächst da sein, jedoch nicht für lange, was man bei ihm vorher nie genau weiß, da er sich ungern festlegt. Er ist zum ersten Mal in der Stadt, deshalb braucht er jemanden, der ihn herumführt.« Von PETER MOHR

Eisen weint nicht

Roman | Fernando Aramburu: Langsame Jahre Viele Schriftstellerbiografien könnten auch als reizvoller Romanstoff taugen. So auch die des wichtigsten zeitgenössischen baskischen Schriftstellers Fernando Aramburu, der seit 35 Jahren in Hannover lebt, aber literarisch immer wieder zu seinen Wurzeln ins Baskenland zurück kehrt. Fernando Aramburus Langsame Jahre gelesen von PETER MOHR

Desillusionierte Tochter Südafrikas

Menschen | Zum Tod  der Nobelpreisträgerin Nadine Gordimer Sie hat lange und unerbittlich gegen das Apartheidsregime gekämpft. Umso größer war ihre Enttäuschung über die später  folgende politische Entwicklung Südafrikas. In ihrem letzten Roman ›Keine Zeit wie diese‹ (2012) erzählte die in ihren letzten Lebensjahren völlig desillusionierte Nadine Gordimer von der Vetternwirtschaft der einstigen Helden des ANC – von Korruption, Egoismus und politischer Inkompetenz. Von PETER MOHR

Zwischen Wahn und Wirklichkeit

Roman | Jo Nesbø: Das Nachthaus

Der junge Richard Elauved hat seine Eltern verloren. Bei Frank und Jenny Appleby in dem kleinen, ländlichen Ort Ballantyne findet er ein neues Zuhause. Doch von Anfang an ist er ein Außenseiter unter Seinesgleichen, gehört fraglos zur »Pariakaste« der Jugendlichen im Ort. Als von den wenigen Jungen, mit denen er Umgang hat, kurz nacheinander zwei spurlos verschwinden und Richard der Letzte ist, mit dem die Vermissten gesehen wurden, beginnen sich Polizei und FBI für ihn zu interessieren. Doch niemand glaubt an die absurden Geschichten, die er den untersuchenden Beamten rund um ein mysteriöses Haus mitten im Wald nahe der Stadt auftischt. Und so landet Richard schließlich in einer gefängnisähnlichen Besserungsanstalt. Von DIETMAR JACOBSEN

Aufstieg und Fall

Roman | Burkhard Spinnen: Rückwind »Unser Alltag ist ganz im Wesentlichen die Methode, die Kunst, mit dem Scheitern fertig zu werden«, heißt es im neuen Roman von Burkhard Spinnen, der 1991 für »Dicker Mann am Meer« den Aspekte-Literaturpreis des ZDF erhalten hat und seitdem nicht nur kontinuierlich Romane und Essays veröffentlicht, sondern auch als Literaturvermittler reüssierte. Von 1997 bis 2000 war der 62-Jährige  Gastprofessor am Deutschen Literaturinstitut  in Leipzig, überdies kam er mehr als zehn Jahre als Juror beim renommierten Klagenfurter Ingeborg-Bachmann-Preis zum Einsatz. Von PETER MOHR