»Trauma spielte eine große Rolle. Ich finde es aber wichtig zu betonen, dass die Leute nicht nur traumatisiert ankommen, weil sie in den Herkunftsländern oder auf der Flucht Traumata erfahren haben. Auch die Umstände vor Ort können traumatisierend sein oder zu Retraumatisierungen führen«, erklärt die 32-jährige Theresa Pleitner, die als Psychologin in einer Unterkunft für Geflüchtete arbeitete und aus diesen Erfahrungen ihren ersten Roman geschrieben hat. Eine autofiktionale Bestandsaufnahme, die zwischen idealistischen Ambitionen und kühler Ernüchterung changiert. Von PETER MOHR
Im Mittelpunkt steht eine junge Psychologin, die nach ihrem Studium in einem provisorischen Aufnahmelager für Geflüchtete in einer deutschen Großstadt zu arbeiten beginnt. Auf ihrem Weg zum „Lager“ muss sie den Fluss überqueren, es ist wie ein Grenzübertritt in eine andere »Welt«.
Theresa Pleitner beschreibt den Arbeitsalltag, der aus Helfen in einer Art Endlosschleife besteht. Erfahrene Kollegen halten Distanz zu den »Gästen« genannten Flüchtlingen. Der anfängliche Eifer verwandelt sich bei der Protagonistin rasch in Frustration.
Menschen werden zu Karteinummern, Einzelschicksale verschwinden hinter Aktenzeichen. Hier gibt es keine Privatsphäre, stattdessen schlechte Lebensbedingungen, fehlende Hygiene und die Omnipräsenz der Angst vor dem Zugriff der Behörden. Komplizierte »Fälle« werden an den psychiatrischen Dienst delegiert. Die Beurteilung kann Einfluss auf das Asylverfahren haben. Die tägliche Arbeit geschieht in einem Spannungsfeld zwischen Religion und Psychologie, ohne Kenntnis der Kulturen der Geflüchteten.
Als die Protagonistin einen »Patienten« wegen akuter Selbstmordgefahr auf Anweisung einer erfahreneren Kollegin mit der Polizei abholen lässt, um ihn in eine Klinik zwangseinzuweisen, wird ihr klar, wie unmenschlich dieses System ist, in dem oftmals Sanktionen statt Hilfe am Ende einer kaum zu kontrollierenden Handlungskette stehen.
Die Diagnosen sind kaum überprüfbar, weil sie aus dem Moment, aus einer persönlichen Begegnung heraus entstanden sind. Da der »behandelnde« Psychologe seine eigenen Emotionen nicht »ausschalten« kann, mangelt es an faktischer Objektivität.
Theresa Pleitners autofiktionale, stark selbstreflektierende Erzählung bezieht aus dem eigenen Erleben ein Höchstmaß an Authentizität. Sie beschreibt die permanente Gratwanderung zwischen der eigenen Angst vor Fehlern und der Möglichkeit des Überinterpretierens. Dies geschieht mit einer großartigen Beobachtungsgabe und viel Empathie für die unterschiedlichen »Fälle«. Bei der Protagonistin greifen die Belastungen aufs Privatleben über und führen zu handfesten Schlafstörungen. Das erschütternde Ergebnis einer Tätigkeit, in der der Wille zur Hilfe in eine ausweglose Hilflosigkeit führte. Es wird von den zermürbenden Zuständen des Wartens im Asylverfahren berichtet – Antragsteller und Betreuer verzweifeln daran gleichermaßen.
Über den Fluss ist ein aufwühlendes, schonungslos offenes und sehr mutiges Buch, das von den Schattenseiten in unserer Gesellschaft berichtet und aus Aktenzeichen erfahrbare Einzelschicksale gemacht hat.
»Natürlich ist es gut, ein Stück Idealismus zu haben, engagiert zu sein, sich einsetzen zu wollen. Es ist auch gut, einen kritischen Blick auf die eigene Rolle zu haben, auf die Verstrickung in die Machtstrukturen. Aber es ist andererseits auch wichtig, sich bewusst zu sein, dass die Möglichkeiten hier leider begrenzt sind«, hat Theresa Pleitner über ihre Tätigkeit als Psychologin und damit auch über ihren Romanerstling erklärt. Ein großer Wurf. Chapeau!
Titelangaben
Theresa Pleitner: Über den Fluss
Frankfurt/M.: S. Fischer 2023
204 Seiten. 22 Euro
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