Blick ins tiefste Innere

Sachbuch | Colin Salter: Die Geschichte der Anatomie

Sie erinnern sich vielleicht an die Szene in dem wunderbaren Film ›Der Medicus‹, als Rob Cole, der Hauptdarsteller, entgegen allen Befugnissen einen Leichnam in einem entlegenen Kellerverlies seziert und natürlich auch gehörigen Ärger bekommt. Aber: Irgendwie musste sich die Anatomie ja immer wieder neu entwickeln, zu sehr verlangten Vermutungen und Annahmen nach Bestätigung. Ein Blick in diese spannende Wissenschaftsgeschichte vermittelt dieses Buch. Von BARBARA WEGMANN

Ein altertümlicher menschlicher Schädel vor einer historischen Zeichnung eines menschlichen TorsosWenn man Geschichts- und Wissenschaftsautor ist, dann ist das eine hervorragende Kombination und Grundlage, Wissenschaften in einen geschichtlichen Rahmen zu stellen und andererseits Geschichte durch eine Wissenschaft lebendig zu machen. Höchst spannend und erfolgreich meistert dies der aus Edinburgh stammende Colin Salter. Insgesamt 150 Bücher zieht er aus rund 4000 Jahren hinzu, Bücher aus aller Welt, soweit nämlich reichen die Aufzeichnungen der Anatomie zurück. Vom »Papyrus Edwin Smith, der die chirurgische Behandlung von Kampfverletzungen im alten Ägypten beschreibt, bis hin zur aktuellen Ausgabe von Musculoskeletal MRI, in der sich die technologischen Fortschritte des 21. Jahrhunderts widerspiegeln.«

Kopf, Herz und vor allem der Sitz der Seele, es waren die tief bewegenden Fragen der Mediziner und auch Philosophen über viele Jahrhunderte hinweg. Und zunehmend stießen die Wissenschaftler auf eine Gratwanderung. »Es war ein mutiger und schwieriger Schritt für die Anatomen jener Zeit, sich von dem vorherrschenden Einfluss der Religion auf die anatomische Theorie zu distanzieren.« Erst ganz allmählich, so der Autor, habe die Wissenschaft begonnen, sich von Kirche und Staat zu lösen. Glaube und Annahme durch Fakten und Tatsachen zu ersetzen. Was folgt, liest sich wie ein Krimi. Leichen mussten beschafft werden, schließlich wollten nicht nur Anatomen, sondern auch Maler und Bildhauer zu damaliger Zeit den menschlichen Körper bis ins Letzte verstehen, durchschauen und dieses so unergründliche Kunstwerk nachvollziehen können.

Das Leichensezieren hatte wahrhaft keinen guten Ruf, Leichen wurden gestohlen, verkauft, bei Nacht und Nebel ausgegraben aus frischen Gräbern. Regelrechte Banden gründeten sich, um den Bedarf zu stillen. Ein einträglicher Geschäftszweig. Manche hatten auch schlichtweg Beziehungen, wie zum Beispiel Michelangelo oder Leonardo da Vinci: Sie hatten »eine Art Hintertür-Abmachung mit örtlichen Krankenhäusern, um Zugang zu frischen Leichen zu Studienzwecken zu erhalten.

»Die Beziehung zwischen Kunst und Anatomie ist symbiotisch, und die Illustrationen in Anatomiebüchern erzählen über den Lauf der Jahrhunderte eine ebenso relevante Geschichte wie der Text selbst.« Bis zur Neuzeit eroberte sich die Wissenschaft der Anatomie immer tiefer und intensiver das Wissen über den menschlichen Körper, drang in seine Tiefen, entdeckte diese »wunderbare Maschine«, mit »fein abgestimmtem und gleichzeitigem Chaos von voneinander anhängigen Systemen, die ständig Gefahr laufen, zu versagen.«

Was man wo wann entdeckte, wer es entdeckte, unter welchen Bedingungen und Gefahren, das veranschaulicht das Buch, sich stets auf berühmte Werke beziehend, aus ganz verschiedenen Zeiten, aus ganz verschiedenen Ländern, mit vielen Illustrationen, Fotografien, aber hauptsächlich Skizzen, Notizen, Malereien, die auch heute noch absolut begeistern und vom Aufbruch und der unstillbaren Neugier damaliger Wissenschaftler zeugen. Geschichten aus der jeweiligen Zeit, zum Teil abenteuerliche Geschichten, die heute fast gruselig anmuten oder surreal, sie säumen diesen Ausflug in die Jahrtausende.

Muskeln, Nerven-, Blut- und Lymphbahnen, die Knochen, unsere Haut, das Wachstum und die Entwicklung, jedes Detail wurde einst unter manchmal kuriosen Bedingungen erforscht, festgehalten, diente als Grundlage für weitere Forschungen. Und – glücklicherweise –, wurde auch Vieles von der modernen Medizin dann gerade gerückt.

Parallel zu den anatomischen Forschungen gab es aber auch die technische Entwicklung, die Geräte, die Techniken. Was für ein Meilenstein, die Erfindung des ersten Endoskops oder der Röntgenstrahlen 1895. Letztlich, so die Bilanz und Ausblick nach einem langen Ausflug in frühere medizinische Mythen und für die jeweilige Zeit atemraubende Erkenntnisse, der Darstellung von heute unvorstellbaren wissenschaftlichen Methoden, die einen manchmal schmunzeln lassen, nach diesem langen und überaus kurzweiligen Ausflug geht es im 20. Jahrhundert in die Tiefe des Körpers und der Zellen. »… eine neue Ära der Anatomie, die sich auf die zellulären und subzellulären Bestandteile des menschlichen Körpers konzentrierte.« Und die Forschungsreise in diese Tiefen ist noch lange nicht zu Ende, Geheimnisse gibt es nämlich heute immer noch.

| BARBARA WEGMANN

Titelangaben
Colin Salter: Die Geschichte der Anatomie
In 150 Büchern von der Antike bis heute
Bern: Haupt Verlag 2024
ISBN: 9783258083636
227 Seiten, 38 Euro

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Ambitionen und Ernüchterung

Nächster Artikel

Der klassische Philosoph der Moderne

Weitere Artikel der Kategorie »Sachbuch«

Zwischen Ruhm, Isolation und Verrücktsein

Sachbuch | Susan Bernofsky: »Hellseher im Kleinen«. Das Leben Robert Walsers

Robert Walser wurde bereits als junger Schriftsteller über sein Geburtsland Schweiz hinaus von vielen bewundert, so auch von seinen Zeitgenossen Franz Kafka, Robert Musil, Hermann Hesse, Walter Benjamin, Thomas Mann und Stefan Zweig. In seinem späteren Leben hingegen war er, so seine Biografin Susan Bernofsky, »fast vergessen, eine Vergessenheit, die ihn überdauerte.« Erst nach seinem 100. Geburtstag im Jahre 1978 wurde sein schriftstellerisches Werk wiederentdeckt und »von neuen Generationen von Lesenden und Literaturwissenschaftler:innen begeistert aufgenommen.« Von DIETER KALTWASSER

Klein; aber oho!

Sachbuch | Sandra Leitte: Winzig²

Es ist klein, quadratisch und enthält so viele praktische Hinweise und Anregungen. Und so wie das Buch ist auch sein Thema: Wer sich für die Tiny-House-Bewegung interessiert, die ein ganz neues Leben auf kleinstem Raum propagiert, der findet hier auf über 200 reichlich bebilderten Seiten viel Auswahl, die noch viel mehr Fantasie anregen, meint BARBARA WEGMANN.

Der Western bleibt

Sachbuch | Anmerkungen zu Thomas Klein: Geschichte – Mythos – Identität. Zur globalen Zirkulation des Western-Genres Man sollte über den Western vielleicht keine nüchternen Texte verfassen, das ist nur unter Schwierigkeiten möglich, und Thomas Klein weist in seiner hier rezensierten grundlegenden Untersuchung zurecht wiederholt darauf hin, dass dieses Genre sich facettenreich entwickelt und sich erfolgreich behauptet, indem es seine Erscheinung chamäleongleich verändert. Nun denn. Vielleicht gibt es dennoch einige Leitfäden. Von WOLF SENFF

Zurückgezogenheit im Rausch

Gesellschaft | Leslie Jamison: Die Klarheit Man kennt die Geschichten über Sucht, bevor man sie ganz gehört hat, denn sie ähneln sich erschreckend. Leslie Jamison, die selbst jahrelang mit dem Verlangen nach Alkohol kämpfte, wagt sich an die Genesung und Heilung als spannende, lebensbejahende, befreiende Alternative. Von MONA KAMPE

Von Politikern und Journalisten

Gesellschaft | Friedemann Weckbach-Mara: Deutschland – Deine Politiker »La pentola guardata non bolle mai«, sagt man in Sizilien. Mit diesem Bild eines Topfs voller Wasser, das auf dem Herd solange nicht zu kochen beginnt, wie jemand zuschaut, lässt sich der Idealzustand des Verhältnisses von Politik und Journalismus beschreiben. Als »Vierte Gewalt« soll die Presse das Tun und Nichtstun der Politiker beobachten, darüber berichten und so dem Missbrauch von Macht vorbeugen. Allein, um an ihre Informationen zu kommen, sind Journalisten letztlich auf ein mehr oder weniger enges Verhältnis zu Politikern angewiesen. Die daraus entstehenden Probleme sind auch denen bekannt, die nicht