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Blutrausch

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Blutrausch

Die zivilisierte Welt sei auf dem Rückzug, ultimativ, sagte Annika und schenkte Tee ein, Yhin Zhen, sie hatte das Drachenservice aufgedeckt, die Temperaturen waren mild.

Farb tat sich eine Pflaumenschnitte auf.

Ob es nicht stets dasselbe sei, fragte er, die einen würden in Luxus oder wenigstens ohne finanzielle Sorgen leben, die anderen, bei weitem die Mehrheit, seien barbarischen Zuständen ausgeliefert, es würden Kriege geführt, zu Millionen irrten die Menschen auf dem Planeten umher, und wer es sich leisten könne, suche in friedfertigen Regionen unterzukommen.

Er nahm einen Löffel Schlagsahne und strich sie sorgfältig auf seiner Pflaumenschnitte glatt.

Viele Ukrainer, sagte er, würden sich in Deutschland aufhalten, damit sie nicht eingezogen würden, die Zustände seien unhaltbar, doch was könne man tun.

Das seien alles weder erfreuliche noch besonders neue Themen, sagte Annika, die Menschen würden leiden.

Die moderne Industrie habe effektive Massenvernichtungswaffen entwickelt, sagte Tilman, ihre Leistungen seien vernichtend, sie lasse Weltkriege und Vietnam, als wären es harmlose Scharmützel gewesen, um Längen zurück, Wachstum und Fortschritt erreichten in den Kriegstechnologien ein  zukunftsweisendes Niveau, es werde massiv investiert, Homo sapiens sei mit ganzem Herzen dabei, mithilfe von Drohnen seien gezielte Tötungen möglich, Wissenschaft und Technik präsentierten sich in nie dagewesener Performance, automatisierte Systeme, sogenannte Robotwaffen, versprächen weitergehende innovative Strategien, Phantasie sei gefragt, er lächelte, sei es denn nicht eine Freude.

Eitel Sonnenschein, spottete Farb und aß ein Stück von seiner Pflaumenschnitte, Homo sapiens entfalte ungeahnte Talente.

Es habe nie destruktive Kräfte in diesem Ausmaß gegeben, sagte Annika, man lebe in einer Hochleistungsgesellschaft, die Zerstörungen und das Elend seien beispiellos, in Gaza wie in der Ukraine, und ärgerlich sei die begleitende Propaganda, feindliche Führungsfiguren würden verteufelt, ob es nun Osama bin Laden gewesen sei, Saddam Hussein, al-Gaddafi, al-Assad oder seit neuestem Putin, so schaffe niemand eine Grundlage für Friedensgespräche.

Kriegstreiber, sagte Farb, und nein, er wolle niemanden verteidigen, keineswegs, beide Seiten müßten zur Vernunft kommen.

Tilman ging in die Küche, Tee neu aufzugießen, Yin Zhen.

Farb tat sich eine zweite Pflaumenschnitte auf.

Annika blätterte in ihrem Reisemagazin, das Thema, fand sie, eignete sich kaum für eine Plauderei, doch es lasse sich nicht einfach ignorieren, die Ereignisse seien bedrohlich, es sei von Atomschlägen die Rede.

Tilman stellte die Kanne auf das Stövchen, setzte sich und reichte Farb einen Löffel Schlagsahne.

Die militärische Aufrüstung gebe die Richtung vor, das Geschehen, sagte er, sei in jeder Hinsicht grenzwertig, nie dagewesen, daß man sich frage, worauf das hinauslaufen werde.

Tilman nahm sich einen Marmorkeks.

Schon der alternde Goethe habe vor dem Maschinenwesen gewarnt, sagte er, und der gewaltige Scherbenhaufen, den die Industrialisierung anrichte, gäbe ihm recht, das Maschinenwesen dominiere den Alltag, Abläufe würden automatisiert, Kälte breite sich aus, das erstickende Gefühl von Ohnmacht, und Politik jammere über Zustände, die sie selbst herbeigeführt habe.

Farb aß seine Pflaumenschnitte und dachte darüber nach, ob er dazu nicht lieber eine Tasse Kaffee tränke, genieße man Yin Zhen nicht sowieso besser ohne Pflaumenschnitte.

Annika blätterte in ihrem Reisemagazin.

Der Mensch werde marginalisiert, daran sei nicht zu zweifeln, aber problematischer schien ihr die mit dem Klimakollaps drohende Auslöschung der Zivilisation zu sein und, noch darüber hinaus, die der überkommenen Lebensgrundlagen, die Vernichtung der Schöpfung, und sie überlegte, ob man dahinter ursächlich einen Rückzug Gottes vermuten müsse, was könne man tun, die Dinge seien kompliziert.

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Einwohnen

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Einwohnen

Kirchen, Kathedralen, Dome seien zu Hotspots des Tourismus geworden, sagte Tilman, kein Aufenthalt in Paris ohne Notre Dame, kein Rom-Aufenthalt ohne den Petersdom, absolviert in einer Reisegruppe nebst sachkundiger Führung.

Farb kam aus der Küche und schenkte Tee nach, Yin Zhen, die ersten Märztage brachen an, die Temperaturen waren leicht winterlich, doch die Sonne schien, in einem warmen Pullover hätten sie sich beinahe schon auf die Terrasse setzen können.

Anne nahm einen Keks.

Tilman rückte näher an den Couchtisch.

Übergänge

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Krähe

Wir dürfen die Übergänge nicht geringschätzen, Krähe, keineswegs. Ich weiß nicht, wie es dir geht mit Übergängen, zum Beispiel wenn du aufwachst, reibst du dir die Augen und streckst die Beine, bevor du aufstehst? Es ist wichtig, den Übergang in den Tag nicht zu verpassen, du mußt den treffenden Zeitpunkt erwischen, sonst wird das wird nicht dein Tag werden.

Gedenken

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Gedenken

Höchste Zeit, sagte Anne, höchste Zeit auch für eine feministische Kultur des Gedenkens.

Tilman beugte sich vor.

Unser Blick auf die Gegebenheiten hat zu wenig Struktur, sagte Anne, wir gedenken der Opfer des Terrorismus, der Opfer der Mafia, der Opfer von chemischen Waffen, der Opfer von Flucht und Vertreibung, wir etablieren einen Olympia-Tag, einen Tag des Jazz, einen Europa-Tag, das alles ist wichtig nebst vielem darüber hinaus.

Tilman schenkte Tee nach.

Doch bleiben diese Themen nicht letztlich beliebig?, fragte Anne.

Er stellte die Teekanne zurück auf das schlicht weiße, zierliche Stövchen.

Und? Was fehlt?, fragte er.

Nichtstun

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Nichtstun

Ob es Feigheit sei, fragte sich Thimbleman.

Eldin legte einen Scheit Holz nach, die Flammen schlugen hoch.

Der Ausguck tauchte aus der Dunkelheit auf und setzte sich neben Thimbleman.

Crockeye wandte sich entnervt ab. Was hatte der Ausguck immer mit seinem Salto.

Die späte Moderne sieht bedrohliche Zeiten auf sich zu kommen, sagte LaBelle, wer hätte da keine Angst.

Der Panikmodus greift um sich, sagte Rostock.

Nicht unser Problem, sagte Bildoon, unser Thema ist die Verwahrlosung der Stadt San Francisco, die Gesetzlosigkeit, die Flut der Goldgräber.

Hitze

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Hitze

Wie schön!

Die Dinge bewegen sich, Annika, sie nehmen Fahrt auf.

Das kann man so sehen.

Die Glut bricht durch die Oberfläche, die verkrusteten Verhältnisse werden aufgeweicht.

Ein Lebenszeichen.

Herrlich, sagte Farb, man möchte meinen, der Planet wache auf.

Oder einfach nur, daß er sich in seiner Ruhe gestört fühle.

Farb lachte. Wut und Ärger als Beweggrund, mag sein, jedenfalls reagiere er höchst lebendig, er sei erzürnt, wer könne ihm das verübeln.