Ich merkte mir alles

Roman | Dana von Suffrin: Nochmal von vorne

»Ja, Humor ist natürlich ein Bewältigungsmechanismus, aber auch die einzige Waffe, die ich habe«, hatte die 38-jährige Schriftstellerin Dana von Suffrin kürzlich über ihren neuen Roman erklärt. Für ihren Debütroman Otto (2019), der um einen jüdischen Familienpatriarchen kreiste, war die in München lebende promovierte Historikerin u.a. mit dem Hölderlin-Preis ausgezeichnet worden. Von PETER MOHR

Im neuen Roman versucht die Protagonistin Rosa Jeruscher die eigene Familiengeschichte nicht nur zu rekonstruieren, sondern auch die zahlreich vorhandenen Dellen irgendwie zu glätten. Die Handlung beginnt damit, dass Rosa an ihrem Arbeitsplatz per Telefon über den Tod ihres Vaters informiert wird. Die Hauptfigur ist längst erwachsen, als der Vater an den Folgen einer Krebserkrankung stirbt. Für Rosa bedeutet dies dennoch eine gewaltige Zäsur – vor allem in ihrem Kopf, denn nun ist sie mit der komplizierten Familiengeschichte allein. Sie erinnert sich an heftige Diskussionen ihrer Eltern, die sie passiv, aber mit großer Aufmerksamkeit verfolgt hat: »So tat ich, was ich meistens tat: überhaupt nichts, ich bewegte mich nicht und merkte mir alles«.

Die Mutter hatte nach dem Holocaust offensichtlich mit schweren Schuldgefühlen in ihrer Rolle als deutsche Frau zu kämpfen. Der Vater war (geprägt vom Jom-Kippur-Krieg) aus Israel nach Deutschland gekommen, wollte als Chemiker Karriere machen, landete aber in einem unbedeutenden Labor. Das schwierige deutsch-israelische Verhältnis lastet auf der Familie wie ein Felsbrocken. Hinzu kamen persönliche Enttäuschungen, Vorwürfe und Versagensbezichtigungen. Die Mutter verlässt irgendwann die Familie, Rosas ältere Schwester Nadja hatte den Kontakt auf ein Minimum reduziert. »Beim letzten Mal, als ich sie anrief (vor drei Jahren), hatte sie sogar nur: Hallo? gesagt, und ich antwortete: Nadja, ich bin’s, und sie sagte: Wer?, und dann fragte sie noch einmal: Wer ist da?, und da wurde mir klar, dass Nadja nicht einmal meine Nummer eingespeichert hatte.«

Der Buchtitel Nochmal von vorne impliziert gleichermaßen den Wunsch nach einem Neuanfang wie den schwierigen Versuch, irgendwie das biografische Chaos doch zu ordnen. Dana von Suffrin hat immer wieder fragmentarische Ereignisse aus der Weltgeschichte eingeflochten und auf eine lineare Handlung bewusst verzichtet. Sie springt in die Vergangenheit, baut überlieferte Erinnerungen des Vaters und imaginierte Träume in die Handlung ein, und wechselt genau so rasch wieder zurück zu Monologen aus der Zeit nach dem Tod des Vaters. »Später beklagte die beauftragte Kommission, dass Hitler es versäumt hatte, seinen Bleistift anzuspitzen. Er war stumpf, und eine viel zu dicke Linie wurde nun zur Grenze, im Maßstab der Karte war sie sechs Kilometer breit geraten«, heißt es in einer historischen Anekdote. Dana von Suffrin hat dieses »kopflastige« Thema überraschend leicht erzählt, ohne jedes Pathos, aber mit einer nicht zu übersehenden Affinität zum schwarzen Humor.

Protagonistin Rosa versucht für sich selbst die Familiengeschichte glatt zu bügeln, dahinter verbirgt sich die Suche nach »Normalität«, nach Unbeschwertheit, vielleicht sogar nach Lebensfreude. Sie wolle zeigen, wie Geschichte in uns weiter transportiert wird, hatte die Autorin kürzlich erklärt. »Kann man denn nicht lachend auch sehr ernsthaft sein?«, heißt es in Lessings Minna von Barnhelm. Ja, man kann. Dana von Suffrin hat diese künstlerische Gratwanderung mit Bravour bewältigt und dabei nie die künstlerische Balance verloren. Einer der interessantesten Romane dieser Frühjahrssaison.

| Peter Mohr

Titelangaben
Dana von Suffrin: Nochmal von vorne
Köln: Kiepenheuer und Witsch 2024
235 Seiten. 23 Euro
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