Robinson strandete auf einer einsamen Insel, Jona landet mutterseelenallein auf dem Dach eines dreißigstöckigen Hochhauses und muss mit ihrer unfreiwilligen Isolation klarkommen. Eine echte Herausforderung für ein kleines Mädchen, stellt ANDREA WANNER fest.
Das Hochhaus ist ein Bürogebäude in Wolem. Dort arbeitet Jonas Vater im zwanzigsten Stock. Jona ist das einzige Kind der Stadt, das täglich nach der Schule in dieses Gebäude geht, wartet, bis ein Erwachsener den Aufzug benutzt und dann hoch hinauf zu ihrem Vater fährt. Dort wartet sie still, bis er mit seiner Arbeit fertig ist und sie gemeinsam ins Lecker zum Essen gehen. Jonas Mutter ist tot, der Alltag mit ihrem Vater liebevoll und vertraut. Tag für Tag ist das dasselbe. Jona ist ein aufgewecktes Kind, plaudert mit dem Vater und hört zu, wenn er erzählt. Zum Beispiel davon, dass Wolem womöglich eine Überschwemmung bevorsteht, sie aber rechtzeitig die Stadt verlassen würden.
Er hat die Situation offensichtlich falsch eingeschätzt. Das Hochwasser kommt, das Gebäude, in dem das Wasser schon fast bis zum dritten Stock steht, wird evakuiert und Jona verpasst all das. Sie ist an ihrem geheimen Ort, an dem sie sich manchmal die Zeit vertreibt: ganz oben, auf dem Flachdach des Hochhauses, dem Himmel, der in den engen Wolemer Gassen nur als schmaler Streifen zu sehen ist, ganz nah. Dort ist sie eingeschlafen und wacht erst auf, als sie die einzige in dem von Wassermassen eingeschlossenen Haus ist. Und jetzt?
Jona verzweifelt nicht. Sie orientiert sich im Gebäude, organisiert sich Kissen und etwas zu essen, Fotos, die sie auf Schreibtischen findet, damit sie sich nicht so alleine fühlt, Wasser in Flaschen, denn aus den Hähnen kommt nichts mehr. Sie fährt Rennen gegen sich selbst auf Büroschreibtischstühlen, bringt sich das Bauchreden mit einer Gummihandschuhpuppe bei, füttert eine Taube und sorgt dafür, dass ein vorbeifliegendes Flugzeug oder Hubschrauber sie entdeckt. Zunächst mit Zuckerstückchen, die dann aber vom Regen aufgelöst werden. Und dann schleppt sie folgende Dinge aufs Dach: zwei Toaster, zwanzig Kalender, zehn Klebebandabroller, zehn Tablets, fünf Taschen, sechs Gummihandschuhe, vier Kissen, Topfpflanzen, Geschirr- und Handtücher, dreißig Tabletts, drei Bilder, eine Rolle Luftpolsterfolie, Kleiderhakenbretter, dreißig Schubladen, fünf Rollen Alufolie und zwanzig Bücher. Und aus all diesen Dingen entsteht eine große Collage, die von oben gesehen lautet: ICH BIN HIER. Jetzt muss das nur noch jemand lesen.
Ein Mädchen ist ganz auf sich selbst gestellt. Überzeugend und einfühlsam erzählt Joke van Leeuwen von dieser ungewöhnlichen Situation, von den Herausforderungen, der Einsamkeit und Jonas kluger Art, damit umzugehen. Ein Abenteuer in einer schon fast banal alltäglichen Umgebung, die zum Dschungel der Dinge wird, wo Objekte an Bedeutung verlieren und mit neuem Sinn ausgestattet werden. Mehr braucht es nicht, um zu faszinieren und an Jonas Schicksal teilhaben zu lassen.
Titelangaben
Joke van Leeuwen: Ich bin hier!
(ik ben hier!, 2022). Aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers
Hildesheim: Gerstenberg 2024
120 Seiten, 15 Euro
Kinderbuch ab 8 Jahren