Stars in der Manege

Es geht immer ums Ganze. Wenn in einer der großen Arenen des Landes die Chain-Gang All-Stars gegeneinander antreten, verlässt nur einer oder eine die Manege lebend. Denn beim »Kronjuwel im Unterhaltungsprogramm des Strafvollzugs« lockt, wenn man nur auf dem BattleField genügend von Seinesgleichen ins Jenseits befördert hat, als Preis die Freiheit. Allein die meisten kommen nicht so weit. Vor allem dann, wenn sie gegen die Stars in der Manege antreten müssen: Loretta Thurwar und Hurricane Staxxx. Die beiden muskelbepackten Frauen sind nicht mehr weit vom Ziel entfernt. Aber was dann? Mit wem soll das ganze Land in Zukunft am Bildschirm mitfiebern, wenn die beiden umjubelten Frauen zur Prime Time nicht mehr morden? Ein neuer Plan muss her – und je fieser der ist, umso besser. Von DIETMAR JACOBSEN

Wenn sie die Manege betreten, stockt den Menschen auf den Zuschauerrängen und vor Abermillionen Bildschirmen im Land der Atem. Denn Hamara Stacker, die unter ihrem Kampfnamen »Hurricane Staxxx« bekannter ist, und Loretta Thurwar sind die Göttinnen des Schlachtfelds, auf dem sich im Kampf Mensch gegen Mensch entscheidet, wer letztendlich im Sarg hinausgetragen wird und wer seinem Ziel, der Freiheit, wieder ein Stück näher gekommen ist.

Im Amerika einer gar nicht mehr so weit entfernten Zukunft sind moderne Gladiatorinnen und Gladiatoren wieder in. Man trägt ihre Tattoos, ahmt ihren Kleidungsstil und die Frisuren nach, schließt sich in Fanclubs zusammen. Und wenn sich auf Befehl von Micky Wright, dem ersten Ansager des mörderischen Events, die Zwangsblockierungen durch magnetische Implantate im Körper der Kämpferinnen und Kämpfer lösen, kennen Loretta mit ihrem Hammer und Hamara, die mit einer messerscharfen Sense bewaffnet ist, keine Gnade.

Moderne Gladiatorinnen und Gladiatoren

Nach einer Reihe von mit zahlreichen Preisen ausgezeichneten Kurzgeschichten – 2020 erschien unter dem englischen Original-Titel Friday Black die erste Sammlung seiner Storys auch auf Deutsch – ist Chain-Gang All-Stars der Debütroman des 1991 geborenen Schwarzen US-Amerikaners mit ghanaischen Wurzeln Nana Kwame Adjei-Brenyah. Das Buch wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet und schaffte es auf die Shortlist des National Book Award. Die New York Times zählte es zu den zehn besten Büchern des Jahrgangs 2023.

Auch Chain-Gang All-Stars war übrigens zunächst als Kurzgeschichte konzipiert, wuchs sich aber nach und nach zu einem fast 500-seitigen Roman aus, in dem Adjei-Brenyah viele der Themen, die schon in seinen Storys präsent waren, noch einmal unter einem literarischen Dach versammelte. Es bot dem Verfasser die Gelegenheit, sich unter einem dystopischen Ansatz grundsätzlich mit den Gedanken des Prison abolition Movement zur Abschaffung von Gefängnissen auseinanderzusetzen und kritisch auf Rassismus, Konsumismus und die öffentliche Akzeptanz von Gewalt in den heutigen USA einzugehen.

Nie und nimmer käme es seinen beiden Hauptfiguren, die nicht nur ihren öffentlichen Kultstatus miteinander teilen, in den Sinn, gegeneinander anzutreten. Doch kurz bevor Loretta sich in einem letzten Kampf endgültig freigekämpft und Hurricane sich die Position der Freundin in ihrer Chain erobert hat, plant die Regie der grausamen Spiele genau das: ein Zusammentreffen der beiden Idole auf dem BattleGround von Hurricanes Heimatstadt Stapleton. Eine soll sterben, die Freiheit vor Augen. Wenn es Loretta ist, waren deren jahrelange Anstrengungen umsonst. Ist es Hurricane Staxxx, wird das Signal, dass es tatsächlich möglich ist, die Freiheit nach drei Jahren und unzähligen gewonnenen Kämpfen zu gewinnen, noch etwas in die Zukunft verlegt.

Volksvergnügen und Protest

Adjei-Brenyahs Roman bleibt über mehr als viereinhalb Hundert Seiten ganz dicht an seinen Heldinnen. Die Leserinnen und Leser riechen den in den Kämpfen auf dem BattleGround vergossenen Schweiß, leiden mit den von ihren Wächtern gezüchtigten Gefangenen, laufen neben den Chains her, wenn die sich auf die kraftraubenden Fußmärsche von Arena zu Arena machen und dabei jede ihrer Regungen und jedes ihrer unterwegs geäußerten Worte den Weg ins Fernsehen finden, wo ein enthusiasmiertes Publikum sie rund um die Uhr im Auge behalten kann. Freilich: Es gibt auch Widerstand gegen die brutale und unmenschliche Art, aus dem Strafvollzug eine Art Entertainment zu machen. Und der wird umso stärker, je näher der finale Kampf zwischen Loretta und Hamara kommt. Aber werden die Protestaktionen, die zahllose kleine Gruppen gegen die Veranstaltungen unternehmen, ausreichen, den Schaukämpfen ein Ende zu setzen?

Chain Gang All-Stars ist ein Buch, das es in sich hat. Zartbesaitete Leserinnen und Leser sollten lieber ein wenig auf Distanz zu den oft minutiös ausgemalten Gemetzeln in den Arenen gehen. Denn Thurwar – in ihrem Namen stecken der nordische Hammergott Thor und der Krieg gegen jede und jeden, den sie führen muss um ihrer Freiheit Willen – und Staxx – deren Sense namens LoveGuile pfeifend wie ein Hurrikan durch die Luft saust – machen keine Gefangenen, sondern bringen mit tödlicher Konsequenz zuende, weswegen sie hier sind. Abseits der BattleFields freilich sind die beiden Frauen ein unzertrennbares Paar und bleiben das auch, wenn sie sich in ihrem letzten Kampf gegenübertreten.

Kritik in dystopischem Gewand

Für einen besonderen Effekt in seinem Roman sorgen die zahlreichen Fußnoten, mit denen Adjei-Brenyah arbeitet. Sie binden das dystopische Geschehen aus der nahen Zukunft in unsere Gegenwart zurück und machen die antirassistischen Einstellungen des Autors deutlich. Denn wenn in einem Land wie den USA von 100.000 männlichen Schwarzen jeweils fast ein Viertel in Haft ist, von derselben Anzahl Weißer aber nur knapp 4 Prozent, und das Verhältnis bei weiblichen Gefangenen nahezu bei 2 zu 1 zu ungunsten der Schwarzen liegt, kann etwas nicht stimmen. Skandalöse Gerichtsurteile und Justizskandale, an Unschuldigen  vollstreckte Todesurteile und zahlreiche Fakten und Zahlen rund um den US-amerikanischen Strafvollzug – zu denen man als Leser immer sofort die aktuellen Fernsehbilder von enthemmten weißen Polizisten bei den Festnahmen von Schwarzen vor Augen hat – tun ein Übriges, um die politische Botschaft, die Chain-Gang All-Stars für das heutige Amerika hat, zu unterstützen.

| DIETMAR JACOBSEN

Titelangaben
Nana Kwame Adjei-Brenyah: Chain-Gang All-Stars
Aus dem amerikanischen Englisch von Rainer Schmidt
Hamburg: Hoffmann & Campe 2024
478 Seiten. 25 Euro
| Erwerben Sie diesen Band portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Macht Übung den Meister?

Nächster Artikel

Grube im Wald, Abgrund im Herz

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Kampf um eine boomende Stadt

Roman | Ross Thomas: Die Narren sind auf unserer Seite

Ein Roman von Ross Thomas (1926 – 1995) kann eigentlich nicht dick genug sein. Wer diese Meinung teilt, wird an dem vorletzten Band der verdienstvollen Ross-Thomas-Werkausgabe des Berliner Alexander Verlages seine helle Freude haben. Denn in der vollständigen deutschen Neuübersetzung von Gisbert und Julian Haefs ist Thomas‘ im Original mit der von Mark Twain entliehenen Titelzeile The Fools in Town Are on Our Side überschriebener Roman aus dem Jahre 1970 sage und schreibe 580 Seiten lang. Dass die erste deutsche Ausgabe unter dem Titel Unsere Stadt muss sauber werden (Ullstein 1972) gerade einmal 144 Seiten zählte, sagt wohl alles über den bisherigen Umgang mit einem der Top-Thrillerautoren des letzten Jahrhunderts aus. Gottseidank ist die üble Kürzerei, die vom unverwechselbaren Stil des Autors nicht viel übrig ließ, nun vorbei. Endlich kann auch Ross Thomas‘ sechster Roman, der zu keiner seiner Reihen zählt, von seinen heutigen Leserinnen und Lesern so rezipiert werden, wie er vor über fünfzig Jahren geschrieben wurde. Und natürlich ist das erneut ein großartiges Leseerlebnis. Von DIETMAR JACOBSEN

Ausflug zum Mars

Roman | Reinhard Jirgl: Nichts von euch auf Erden Nichts von euch auf Erden – der neue Roman von Büchner-Preisträger Reinhard Jirgl. Gelesen von PETER MOHR

Eine Patrone im Lauf

Roman | Reinhard Kaiser-Mühlecker: Wilderer

»Du bist also Landwirt? Das stelle ich mir aufregend vor«, schreibt die Künstlerin Katja auf das Handy des Protagonisten Jakob Fischer, der mit Mitte zwanzig einen Bauernhof in Oberösterreich bewirtschaftet. Von PETER MOHR

Grauenvoll schwierige Frau

Roman | Elizabeth Strout: Die langen Abende

Sie ist wieder da, die pensionierte, stets grantelnde Mathematiklehrerin Olive Kitteridge aus Elizabeth Strouts Erfolgsroman Mit Blick aufs Meer, für den sie 2009 den Pulitzer-Preis erhalten hat. Sie ist älter und unförmiger geworden, ihr Mann ist gestorben und irgendwie scheint es vielen Menschen im fiktiven Städtchen Crosby im US-Bundesstaat Maine nicht besonders gut zu gehen. Von PETER MOHR

Ungleiche Freunde

Roman | Torsten Schulz: Nilowsky Torsten Schulz’ neuer Roman Nilowsky portraitiert Berlin und schwierige Beziehungen seiner Bewohner. Gelesen von PETER MOHR