//

Ein Irrtum

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Nicht wahr

Wie er sich das vorstellen müsse, fragte Farb.

Die Industriegesellschaft sei am Ende, sagte Tilman, aus, vorbei, unübersehbar am Ende, das Klima kollabiere, wohin man sehe, die vertrauten Abläufe brächen ein, Wassermassen überfluteten Wohngebiete, Feuersbrünste legten Wälder und Siedlungen in Schutt und Asche, und daß der Mensch die Natur beherrsche, sei durch die realen Abläufe widerlegt, für jedermann einsehbar widerlegt, und habe sich als fataler Irrglaube erwiesen.

Davon sei öffentlich keine Rede, sagte Annika.

Farb tat sich eine Pflaumenschnitte auf.

Tilman reichte ihm einen Löffel Sahne.

Davon zu reden, sagte er, setzte das Eingeständnis eines fundamentalen Fehlers voraus, eines Fehlers, der einige Jahrhunderte lang die Verteilung der Früchte der Erde geprägt habe, der den herrschenden Eliten ungeahnte Reichtümer verschafft und ihnen einen luxuriösen Lebenswandel erlaubt habe, und sie hätten diese Verhältnisse über die Jahre mit Zähnen und Klauen verteidigt, Widerstände rücksichtslos beseitigt, sich stets behauptet und blickten mit stolzgeschwellter Brust zurück auf ihre Geschichte, auf die, wie sie sich ausdrückten, Evolution des Menschengeschlechts, und nun solle all das ein Fehler gewesen sein, nein, nein, undenkbar, nein.

Ein Rückbau, sagen sie, nein, unmöglich.

Aber habe nicht eben erst eine Störung von IT-Diensten weltweit Kliniken, Banken, Medienunternehmen und Flughäfen lahmgelegt, die Abhängigkeit vom Internet führe in den Ruin.

Farb lachte und aß von seiner Pflaumenschnitte. Die Geschichte müßte umgeschrieben werden, komplett umgeschrieben, spottete er, das werden sie nicht zulassen, nie und nimmer, sie haben sich ihre Welt gestrickt, ihre Hilfstruppen installiert in der universitären Lehre und in den Medien, und halten daran, komme, was da wolle, eisern fest.

Einen Fehler eingestehen, das nicht, sagte Annika, sie würden ja ihr Gesicht verlieren, und an Rückbau sei gar nicht zu denken, sie seien doch erfolgreich gewesen, oder etwa nicht, sie hätten ein Leben in Saus und Braus geführt, hätten sich über alle Maßen bereichert, hätten triumphale Siege gefeiert, sollten sie das etwa bereuen, und wenn andere in Elend gelebt hätten, nun denn, vielleicht hätten sie sich mehr anstrengen müssen, das Leben sei kein Zuckerschlecken.

Darüber werde ja nicht öffentlich geredet, erinnerte Tilman, wie auch immer, sie ließen es nicht zu, das Thema sei tabuisiert, nein, keine Talkshow zu diesem Thema, kein Markus Lanz, und niemand erhebe den Vorwurf, daß die Eliten den Weg ins Verderben gebahnt hätten oder daß die Industrialisierung ein Fehler gewesen sei, oder Fortschritt und Wachstum seien irreführende Leitbilder, seien Lug und Trug, und die Rede von technologischen Errungenschaften sei ein propagandistisches Täuschungsmanöver, nein, davon sei öffentlich keine Rede, stattdessen werde Party zelebriert ohne Ende, Fußball EM, Tour de France, Olympische Spiele, Paralympics nicht zu vergessen, sie liefern die Schlagzeilen, sie produzieren gute Laune.

Die Menschheit, spottete Farb, stehe am Rande einer Katastrophe, doch es gebe, sagen sie, nichts zu bereuen, niemand habe Fehler gemacht und niemand sei verantwortlich, alles bestens.

Diese Herrschaften hätten ihr Leben hinter sich, sagte Annika, wie schön für sie, und was nach ihnen geschähe, sei ihnen gleichgültig, sei Jacke wie Hose, egal, und absehbar sei, sagte Annika, daß Feuerwehrmänner die übermächtig lodernden Brände nicht würden löschen können und Deiche die steigenden Fluten nicht aufhalten, doch die Eliten, die die Geschicke des Landes gestalten, sähen darin kein Thema, über das es Klarheit zu gewinnen gelte, sagte Annika, außerdem, sagte sie, gehe es um die Erwärmung der Ozeane, um die Verseuchung der Luft, die wir atmen, um den Erhalt der Gesundheit, und sie sehe nicht, sagte Annika, daß ein dringender Bedarf geäußert werde, Ursachen zu ergründen und damit umzugehen, und nein, wer solle denn dafür verantwortlich sein, werden sie sagen, das sei, werden sie sagen, der übliche Lauf der Dinge.

Ein Fehler, werden sie fragen, sagte Farb, was für ein Fehler, die Industrialisierung habe Wohlstand gesichert, der technologische Fortschritt habe das Leben erleichtert, was sei daran herumzumäkeln, niemand rede von einem Rückbau, der Mensch habe sich wohlgefühlt und fühle sich immer noch wohl, Digitalisierung, selbstfahrende Autos, ChatGPT, künstliche Intelligenz, also bitte, und Schuld, werden sie fragen, was denn für eine Schuld, es gäbe weder Schuld noch Schuldige, und folglich gebe es nichts zu bereuen.

Penetrant, sagte Annika.

Memmen, sagte Farb.

Sie zeigen ihr wahres Gesicht, sagte Tilman, unsere gepriesenen Eliten.

Ihre teuflische Fratze, sagte Annika.

Sie titulieren sich großspurig Homo sapiens, spottete Farb, und reden vom Anthropozän.

| WOLF SENFF

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Zwischen Humor und Weltpolitik

Nächster Artikel

Schluck. Grusel. Heul: Urlaub der besonderen Art

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Schlagzeilen mache ich nicht

Kurzprosa | Volker Braun: Werktage. Arbeitsbuch 1990-2008 »Ich kann sagen, was ich will, Schlagzeilen mache ich nicht«, notierte Volker Braun in seinem nun erschienenen opulenten poetischen Tagebuch aus den Jahren zwischen 1990 und 2008. In diesen Werktagen offenbart sich eine bisher kaum beachtete Facette in Brauns Arbeiten: der feinsinnige Humor und seine Neigung zur subtilen Selbstironie. Zum 75. Geburtstag von Georg-Büchner-Preisträger Volker Braun am 7. Mai* – Von PETER MOHR

Übergänge

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Krähe

Wir dürfen die Übergänge nicht geringschätzen, Krähe, keineswegs. Ich weiß nicht, wie es dir geht mit Übergängen, zum Beispiel wenn du aufwachst, reibst du dir die Augen und streckst die Beine, bevor du aufstehst? Es ist wichtig, den Übergang in den Tag nicht zu verpassen, du mußt den treffenden Zeitpunkt erwischen, sonst wird das wird nicht dein Tag werden.

Ausrottung

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Ausrottung

Nein, sagte Termoth, in Kalifornien habe es keine so gravierenden Einschnitte gegeben wie 1832 den Trail of Tears oder 1890 die Schlacht am Wounded Knee, in Kalifornien sei die Ausrottung der Ureinwohner geschmeidig verlaufen, es habe keinen Aufschrei gegeben, und es sei nicht leicht, das Geschehen zu rekonstruieren, zumal die indigenen Stämme bereits von den Spaniern gewaltsam hätten christianisiert werden sollen, doch statt eines Erfolges habe sich Syphilis ausgebreitet und dazu in Epidemien Pocken, Typhus und Cholera, unerfreuliche Mitbringsel der Eroberer – die indigene Bevölkerung, vor der spanischen Missionierung siebzigtausend, sei bis zum Ende der Indianerkriege 1890 um über drei Viertel auf siebzehntausend reduziert worden.

Touste stutzte und spielte einige Töne auf der Mundharmonika.

Thimbleman starrte den Ausguck an.

Crockeye lächelte.

Eldin vergaß den Schmerz in der Schulter.

Popeye und Zuchtperlen

Kalender | Niklaus Gelpke (Hrsg.): mare Kulturkalender 2021
So viel hat mit dem Meer zu tun, Herman Melville meinte sogar einmal, dass es noch nie einen großen Mann gegeben hätte, der sein Leben lang auf dem Festland gelebt hätte. So weit muss man nicht unbedingt folgen, aber das Meer hat seine Faszination nie verloren. Vom Meer und der Kultur, die zum Meer gehört, erzählt auch der Kulturkalender aus dem mare Verlag. Von GEORG PATZER

Leere

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Leere

Das Salzmeer, man muß das wissen, ist ein Ort, an dem nichts geschieht, jedenfalls gilt das für das Lager, ich erwähnte es kürzlich, Sie erinnern sich an den latenten Konflikt um die Ventilatoren, und sofern man die touristischen Ambitionen ins Auge faßt, bildet sich eine Paradoxie heraus, die einer ausführlichen Erklärung bedarf, nicht jetzt, nein, ich werde sie zu gegebener Zeit liefern.