Helmut Kraussers künstlerische Produktivität ist beeindruckend. Der Schach- und Backgammon-Liebhaber, der am 11. Juli seinen 60. Geburtstag feiert(e), hat nun bereits seinen 19 Roman vorlegt. Darüber hinaus hat er äußerst fleißig Erzählungen, Gedichte, Tagebücher, Opernlibretti, Hörspiele und Theaterstücke veröffentlicht. Im letzten Jahr wurde seine Sinfonie in Aue uraufgeführt. Krausser pendelt oft und gern zwischen hohem künstlerischen Anspruch und klischeehaften Vereinfachungen. Von PETER MOHR
»In Wahrheit bin ich absolut größenwahnsinnig. Ich wollte immer der beste Schriftsteller überhaupt werden. Als ich es dann geschafft hatte, war es gleich langweilig«, hatte Helmut Krausser vor einiger Zeit in einem Interview bekannt. Understatement ist nicht seine Sache. Der seit einiger Zeit in Berlin lebende Krausser versteht es, sich selbst in Szene zu setzen.
Sein neuer Roman umfasst einen Handlungszeitraum von rund 50 Jahren – ausgelöst durch das mysteriöse Verschwinden von vier Personen im Jungeninternat Raven Hall im südenglischen Westcott. Der ungeklärte Fall aus dem Winter 1965/66 erregte großes Aufsehen, wurde aber rasch zu den Akten gelegt.
Helmut Krausser lässt den Roman von Anthony Brewer erzählen, ein 71-jähriger Rechtsanwalt im Ruhestand, der damals im Internat dabei war und den Ehrgeiz entwickelt hat, diesen »cold case« zu lösen. »Wir waren Jungs im Alter der schlimmsten Testosteron-Diktatur, es sollte, es muss erwähnt sein; manches kann sonst nicht angemessen verstanden werden.«
In den Erinnerungen an die Internatszeit steht Chris Bradshaw im Mittelpunkt. Eine Person, die später verschwunden ist – ein eigenwilliger Typ, Sohn einer reichen Familie, die das College großzügig unterstützt hat, ein absolutes Alpha-Tier, das zwischen verachtenswertem Ekel und liebenswertem Kumpel changiert. Chris, eine Art egozentrisches Chamäleon hat sich ungeniert und völlig offen an die attraktive Lehrerin Deborah heran gemacht. Sie verschwindet ebenso wie die autoritäre Internats-Direktorin Iris Pinkerton.
Zwanzig Jahre nach den Vorfällen hatte sich Anthony Brewer mehr oder weniger erfolglos zum ersten Mal mit den Geschehnissen in Raven Hall beschäftigt. Als Ruheständler nimmt er den zweiten Anlauf. Von starkem Ehrgeiz angetrieben will er sich dieser Obsession entledigen.
Viele der damals Beteiligten leben noch. Aus nachträglichen Befragungen, aber auch aus seinen eigenen Erinnerungen lässt er (wie beim Puzzle) das Leben im Internat neu entstehen. Es geht Helmut Krausser um weit mehr als das mysteriöse Verschwinden der vier Personen. Der Freiheitsdrang der Teenager, der Bruch mit Traditionen und gesellschaftlichen Konventionen wird auch durch die Musik der Beatles, Who und Rolling Stones inspiriert. Sex, Schwärmerei und Eifersucht prägten den Alltag im Internat. Helmut Krausser rekonstruiert hier auch in der Retrospektive seines Protagonisten eine außergewöhnliche (vermutlich nur einseitige) Freundschaft und zeigt auf beeindruckende Weise, wie die Zeit Menschen verändert. Hauptfigur Anthony holt im Alter den Mescalin-Trip nach, vor dem er sich als Teenager gefürchtet hatte.
Freundschaft und Vergeltung ist auch ein Buch über das Älterwerden, eine Art Lebensbilanz mit einer kleinen Träne im Augenwinkel. Kein klassisch spannendes Buch, doch Tonys Recherchen evozieren einen Sog, dem man sich als Leser kaum widersetzen kann.
Ob er den Fall zu seiner Zufriedenheit gelöst hat, soll an dieser Stelle nicht verraten werden. »Irgendwann ließ das Interesse der Leser nach, obwohl es zwischendurch durch viele Spekulationen künstlich am Leben gehalten wurde. Dann nichts mehr. Diese Stille. Dieses Schweigen. Das Rätsel.« Daraus hat Helmut Krausser einen unterhaltsamen und eigenartig faszinierenden Roman gemacht.
Titelangaben
Helmut Krausser: Freundschaft und Vergeltung
München und Berlin: Berlin Verlag 2024
350 Seiten. 25 Euro
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