White Noise

Roman | Eckhart Nickel: Punk

Drei Instrumente, zwei Akkorde, ein abgefahrenes Outfit – und der PUNK geht ab. Doch Eckhart Nickel lässt seinen neuen Roman nicht in den angesagten Metropolen London oder Berlin, sondern im behäbigen Frankfurt spielen, als ob der traditionelle Wäldchestag außer Rand und Band geraten wäre. Ausstaffiert mit einer überbordenden Fülle an popliterarischen Zitaten und Anleihen. Von INGEBORG JAISER

Eckhart Nickel hegt ein Faible für exquisite Themen und exzentrische Settings. Mit Auszügen aus seinem Debütroman Hysteria, einer dekadenten Verschwörungsutopie, überzeugte er die Jury beim Bachmannpreis 2017; sein zwischen Kunst und Klüngel changierender Nachfolgeroman Spitzweg stand auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis 2022. Und immer wieder ist Nickel für eine Überraschung gut. Denn wer hätte dem dandyhaften Schriftsteller mit gespielt-blasiertem Ennui einen neuen Roman mit dem aufmerksamkeitsheischenden Titel PUNK zugetraut? Einen literarischen Ausflug in die laute, rebellische Subkultur?

Tatsächlich verweist PUNK in anspielungsreichen Zitaten und Referenzen auf die anarchischen Eighties, setzt jedoch mit seinem Geschehen in einer nahen, dystopischen Zukunft an, irgendwann nach der »Pandämonie«. »Der weiße Lärm« regiert die Welt, eine Art Klangvernichtung als möglicherweise biologische Kriegsführung oder akustische Intervention oder »Land-Art-Banksy«? Musik, wie man sie bislang kannte, verschwindet sukzessive aus dem Leben der Menschen. Glücklich mag sich schätzen, wer auf ein formidables Hörgedächtnis, eine an Klängen reiche »interne Audiothek« zurückgreifen kann.

No Future

Mitten in diesem Schreckensszenario durchläuft die junge Karen das Bewerbungsverfahren um ein begehrtes WG-Zimmer bei den Brüdern Ezra und Lambert. Zwei gestelzt-gepflegten, wenngleich etwas subversiv aufgestellten Gentlemen, die – gekleidet in Argyle-Socks von Burlington und dreiteiligen Anzügen – nicht gerade den Shabby Chic einer Sid Vicious-Attitüde pflegen. Bei Lachsschnittchen und Schampus (»Ich habe jetzt wahnsinnigen Durst auf ein Glas perlenden Lebenssaft«) wird das geheime Stereolabor und der Grund für das aufwendige WG-Casting erläutert.

Händeringend sucht man nach einem weiblichen Bandmitglied, um an einem vom Ministerium für Unterhaltung ausgerufenen »Bewerb« für die neue Zukunftsmusik teilzunehmen. Welch glücklicher Umstand, dass Karen auf die richtigen Codes und den passenden Kleidungsstil setzt: »Doc-Martens-Stiefel zu Faltenrock und einem viel zu großen weißen Herrenhemd mit Spitzkragen und der Perlenkette von Mama«. Und ist nicht der verkannte B-Side-Song Karen von The Go-Betweens (mit seiner heimlichen Liebeserklärung an eine Bibliothekarin) ein wegweisendes Omen?

The Great Rock ’n’ Roll Swindle

Nichts erscheint Eckhart Nickel zu abseitig oder zu abstrus für seinen neuen Roman. PUNK ist gespickt mit Insiderwissen, Nerd-Speech, Songzeilen, popkulturellen Anspielungen und Querverweisen, intertextuellen und selbstreferentiellen Bezügen, die zum großen, neu aufgemischten Rock´n Roll-Schwindel gesampelt werden. Eine mögliche Lesart: »Am Ende ist das Ganze lediglich […] eine prinzipiell zweckfreie wie hochunterhaltsame Veranstaltung, die keine Bedeutung über ihre Selbstbespaßung hinaus hat.«

Doch Vorsicht: hängt hier nicht alles mit allem zusammen? Karens Klavierlehrerin Madame Framboisée mit dem ikonischen ersten Satz aus Hysteria: »Mit den Himbeeren stimmte etwas nicht«? Das unterkühlte Stereolabor mit dem verwinkelten Kunstversteck aus Spitzweg? Und klingen die 14 Kapitelüberschriften nicht allesamt wie Songtitel aus der Punk-Ära? Die detailverliebten Fashion-Exkurse wie Bildunterschriften einer Modezeitschrift? Leser mit derselben Wellenlänge und ähnlicher musikalischer Sozialisierung wie der Autor werden begeistert sein über die passende Playlist als Accessoire. Die etablierte Literaturszene bejubelt die drei bisherigen Romane gar als Trilogie. Im November 2024 wird Eckhart Nickel der mit 15.000 Euro dotierte Hermann-Hesse-Literaturpreis verliehen. Er wird ihn sicherlich mit angemessener Nonchalance entgegennehmen. Ganz im Sinne des selbstformulierten Punk-Gesetzes Nr. 10: »Ausdruck ist nichts, Haltung alles.«

| INGEBORG JAISER

Titelangaben
Eckhart Nickel: Punk
München: Piper 2024
203 Seiten. 22 Euro
| Erwerben Sie diesen Band portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe
| Mehr zu Eckhart Nickel in TITEL kulturmagazin

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Eine ungewöhnliche Heldin

Nächster Artikel

Wie ein Spiel historische Forschung und Game Studies zusammenführt

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Großvater Kostas ermittelt

Roman | Petros Markaris: Zeiten der Heuchelei

Helle Aufregung in der ganzen Familie von Kostas Charitos und bei all ihren Freunden: Ein Enkel ist da. Am liebsten würde sich Petros Markaris' Athener Mordermittler ab sofort nur noch mit dem familiären Nachwuchs beschäftigen. Doch gerade jetzt wird ein bekannter Unternehmer durch ein Bombenattentat getötet. Also hat der zwölfte Fall für Charitos und sein Team zunächst einmal Vorrang. Zumal noch mehr Menschen sterben müssen, bevor man den Tätern, die ihre mit »Das Heer der Nationalen Idioten« unterzeichneten Bekennerschreiben mit Federkiel und Tusche in Schönschrift verfassen, auf die Spur kommt. Von DIETMAR JACOBSEN

Die eingebildete Kranke

Roman | Deborah Levy: Heiße Milch Um Fragen der Herkunft und Identität, um Verwandtschaft und Fürsorge kreist Deborah Levys neuer Roman ›Heiße Milch‹. Er ist gleichermaßen Psychogramm, Familienaufstellung und moderne griechische Tragödie – auch wenn Köpfe nur symbolisch rollen und Medusenbisse langsam verblassen. Von INGEBORG JAISER

Alles ist in Bewegung

Roman | Norbert Gstrein: Die kommenden Jahre Der 57-jährige österreichische Schriftsteller Norbert Gstrein ist bekannt dafür, dass er keinen großen Bogen um brisante Themen macht. Nach dem Balkankrieg (›Das Handwerk des Tötens‹) und einer gegen Suhrkamp-Chefin Ulla Berkéwicz gerichteten Roman-Persiflage (›Die ganze Wahrheit‹) hatte er sich zuletzt in seinem Roman ›In der freien Welt‹ (2016) mit dem Nahostkonflikt auseinander gesetzt. Jetzt ist Norbert Gstreins neuer Roman ›Die kommenden Jahre‹ erschienen. Von PETER MOHR

Ein Schauspieler ohne Zuschauer

Roman | Milan Kundera: Das Fest der Bedeutungslosigkeit »Man muss sie lieben, die Bedeutungslosigkeit, man muss lernen, sie zu lieben«, verkündet Ramon, eine der Hauptfiguren in Milan Kunderas neuem Roman ›Das Fest der Bedeutungslosigkeit‹ – das erste größere Erzählwerk des 1929 in Brünn geborenen und seit den 1970er Jahren in Frankreich lebenden Autors seit 2001. Damals hatte sich Kundera in ›Die Unwissenheit‹ noch mit seinem eigenen Schwellendasein zwischen den Kulturen beschäftigt, hatte seine Figuren Irena und Josef mehr aus Neugierde denn aus echtem Heimweg nach langer Zeit von Frankreich nach Prag zurückgeschickt. Von Peter Mohr

Außerirdische in Barcelona

Roman | Eduardo Mendoza: Das dunkle Ende des Laufstegs Am 20. April erhielt der katalanische Schriftsteller Eduardo Mendoza aus den Händen von Spaniens König Felipe den mit 125000 Euro dotierten Cervantes-Preis, die wichtigste literarische Auszeichnung der spanischsprachigen Welt,  für sein Lebenswerk überreicht. Seit der Veröffentlichung seines Romans ›Die Stadt der Wunder‹ (1986) erfreut sich der 74-Jährige Mendoza auch hierzulande einer respektablen Lesergemeinde. Jetzt ist ›Das dunkle Ende des Laufstegs‹ erschienen. Von PETER MOHR