RUDOLF THOMAS INDERST sprach mit Alan Lena van Beek, Lucas Haasis und Aurelia Brandenburg über ihre Arbeit an dem Sammelband ›Zeitenwende‹, der das Spiel ›Pentiment‹ interdisziplinär untersucht. Im Gespräch beleuchten sie die Entstehung der Publikation, die Bedeutung des Spiels für die Spieleforschung sowie aktuelle Projekte und Herausforderungen in der Game Studies-Landschaft.
Rudolf Thomas Inderst (RTI): Guten Tag, danke, dass Ihr Euch für unsere Unterhaltung Zeit nehmt. Bitte stellt Euch doch unseren Leser:innen kurz vor – wie sieht Euer Arbeitsalltag aus und an welchen Projekten arbeitet Ihr zur Zeit?
Alan Lena van Beek (ALVB): Moin, gerne doch! Ich bin Alan (they/them), Senior Scientist an der Mittelhochdeutschen Begriffsdatenbank im Fachbereich Germanistik und am Interdisziplinären Zentrum für Mittelalter und Frühneuzeit der Paris Lodron Universität Salzburg (und ja, der Titel passt kaum auf Konferenzkärtchen, sorry). Ich forsche und lehre in der Schnittmenge von Älterer deutscher Literatur und Digital Humanities. Meine Schwerpunkte sind Mittelalterrezeption in digitalen Spielen und Film, Game Studies, Queer Studies / Trans Studies und Digital und Data Literacy. Ich schreibe gerade meine Habilitation, also mein zweites Buch, über Topoi des Steinernen in der Literatur und in der Wissensliteratur des deutschen Sprachraums im Hoch- und Spätmittelalter.
Lucas Haasis (LH): Als Nordlicht schließe ich mich einmal direkt dem »Moin« von Alan an. Ich bin Dozent und Postdoc an der Universität Oldenburg. Ich bin dort am Institut für Geschichte, Abteilung Frühe Neuzeit und in der Lehramtsausbildung tätig und veranstalte Seminare, Lehrkräftefortbildungen und Vortragsreihen. 2020 habe ich gemeinsam mit dem Lehrer Patrick Heike das Oldenburger »Game Lab in der Villa Geistreich« gegründet, das sich dem praktischen Einsatz von Games in der Schule und in der Lehramtsausbildung verschreibt. Neben meiner Leidenschaft für Games, habe ich auch eine Leidenschaft für Schiffe und Briefe des 18. Jahrhunderts. Auf meiner zweiten Stelle arbeite ich als Forschungskoordinator im Akademienprojekt Prize Papers, einem Forschungs- und Digitalisierungsprojekt zu Kapergerichtsunterlagen der Frühen Neuzeit.
Aurelia Brandenburg (AB): Ich bin Aurelia (sie/ihr) und forsche als Doktorandin bei Confoederatio Ludens an der Hochschule der Künste Bern zur Geschlechtergeschichte digitaler Spiele, wobei sich meine Dissertation um Männlichkeit im deutschsprachigen Spielejournalismus der 1980er und 1990er dreht. Ich bewege mich meistens irgendwo zwischen Geschichtswissenschaft, Digital Humanities und Gender Studies, was im Grunde auch erklärt, wie und warum ich zu digitalen Spielen und Spielkulturen als Forschungsgegenstand gekommen bin. Dabei komme ich ursprünglich aus der mittelalterlichen Geschichte bzw. der Fränkischen Landesgeschichte, woher auch meine Verbindung zu Pentiment kommt.
RTI: Lasst uns jetzt über die Neuerscheinung: Zeitenwende: Interdisziplinäre Zugänge zum Spiel Pentiment sprechen: Um was handelt es sich hierbei genau? Wie kam die Publikation zustande?
ALVB: Als Ende des Jahres 2022 Pentiment erschien, wurden wir natürlich beim AKGWDS hellhörig. Nachdem mir beim ersten Playthrough die Notizen explodierten, wusste ich: Das wird mindestens ein Artikel. Dann kam der erste Blogpost, wo wir einige lose Ideen und erste Eindrücke versammelten, auf dem AKGWDS Blog. Per Discord hörte ich, dass Aurelia und Lucas bereits im Gespräch waren, und da ich noch nie einen Sammelband herausgegeben habe, schloss ich mich an. Little did I know …
Durch meine frühere Mitarbeit beim Mittelalterblog wusste ich, dass hier ein guter Ort für vernünftig archiviertes Diamond Open Access ist.
AB: Genau, im Grunde war es einfach nur sehr schön und interessant, im AKGWDS zu beobachten, wie viele Leute aus unterschiedlichen Perspektiven wirklich sofort Gedanken zu dem Spiel hatten und diese Gedanken auch noch gerne ausführlicher in Paperform zu Papier bringen wollten. Diese Energie wollten wir gerne einfangen, zuerst durch den von Alan erwähnten Blogpost mit ›Stimmen aus dem AKGWDS‹ und dann durch den Band selbst. Dabei war es uns sehr wichtig, dass das Ergebnis frei verfügbar sein sollte, weshalb wir uns früh gegen Print entschieden haben und stattdessen das Gespräch mit der Redaktion vom Mittelalterblog gesucht haben.
LH: Für mich ist es der erste Sammelband im Bereich der Game Studies und im Team mit meinen Kolleg*innen war es eine unheimlich tolle Erfahrung. Gerade jetzt, als wir den Band – auch ein bisschen stolz – auf einer Tagung in Oldenburg präsentierten, wurde mir noch mal klar: Der Arbeitskreis ist ein Ort, an dem solche Arten der Ideen entstehen können – aus einer Laune heraus, die dann aber sehr schnell sehr konkret wird! Der Arbeitskreis ist auch ein Ort, an dem die Projekte dann auch gedeihen können und vor allem abgeschlossen werden, wo gemeinsam angepackt wird und die akademischen Grabenkämpfe (Gott sei Dank!) weit weg sind. Stattdessen geht viel Herzblut in die Projekte (die allesamt ehrenamtlich laufen). Diese kreative, gemeinsame, innovative, oft inspirierende Atmosphäre schätze ich am Arbeitskreis (und in den letzten Jahren gerade in der Arbeit mit Alan und Aurelia) sehr und sie spiegelt sich nun auch in der hohen Qualität der Beiträge im Band wider. Ein Highlight für mich war sicherlich noch das Interview mit Josh Sawyer, das auch aus einem spontanen Impuls heraus entstand – wir haben Josh auf einer bekannten sozialen Plattform einfach mal angepingt. Und schwupps: Saßen wir mit ihm im Twitch-Stream (danke Josh, dass Du reagiert hast!). Das Zusammentreffen hat die Relevanz, zu diesem Spiel eine ausführliche Publikation anzudenken, noch einmal deutlich unterstrichen. Letztlich hat Josh uns dann auch noch in Oldenburg für eine Keynote besucht – gibt es eine bessere Gelegenheit, einen Spielentwickler zu treffen als zur Veröffentlichung eines Sammelbands über das besagte Spiel?
RTI:Welche Themen und Aufsätze finden interessierte Leser:innen dort vor?
ALVB: Es ist ein großer interdisziplinärer Rundumschlag: von Literaturwissenschaft, Gender Studies, Rechtsgeschichte, Epochenchaos, Kunstgeschichte, Linguistik ist alles dabei. Pentiment bietet auf allen Ebenen wie Bild, Typografie, Text, Figuren so viel zu analysieren. Das Einzige, was uns fehlt, ist Musikwissenschaft.
LH: Pentiment ist ein besonderes Spiel – das sieht man an den Reaktionen im Arbeitskreis und unter Spielenden, das sieht man an den Reaktionen des Game-Journalismus, und das sieht man nun auch in der Forschung. Gerade bezogen auf die interdisziplinäre Anschlussfähigkeit des Spiels für die Analyse, die Alan anspricht, sticht das Spiel heraus. Das war auch für uns als Herausgeber:innen sehr spannend zu sehen und zu begleiten, weil wir für die Betreuung auch aus unserer »Fach-Bubble« etwas ausbrechen mussten, um die Beiträge redaktionell zu betreuen und dadurch auch völlig neue Blickwinkel auf dieses Spiel gewinnen durften. Der Titel Zeitenwende ist dabei doppeldeutig gemeint. Zum einen, weil das Spiel an der Schwelle zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit steht, zum anderen aber auch, weil es als Spiel eben auch vieles anders und richtig macht und in vielen Aspekten neue Maßstäbe setzt. Ein zentraler Aspekt ist die Offenheit für Forschungskontroversen und die hohe Transparenz des Studios bezogen auf Inspirationsquellen. Dazu war auch die Keynote von Josh Sawyer zur Veröffentlichung des Bandes sehr einschlägig, die demnächst auf Youtube erscheinen wird.
RTI: Was spielt Ihr eigentlich gerade privat (wenn denn Zeit bleibt) und welche Projekte möchtet Ihr gerne in nächster Zukunft angehen?
ALVB: Ich komme gerade aus 150 Stunden Book of Hours (Weather Factory 2023), ein Occult-Library-Manager und Deckbuilder, für den man riesige Exceltabellen braucht und der mich vollkommen verschluckt hat. Seitdem habe ich ein bisschen Spielekater, weil das so gut war, und grinde ein bisschen in Traveller’s Rest und Potion Craft: Alchemist Simulator rum, bevor ich die Gehirnzellen wieder aktiviere.
Projekte? Ich habe einige Vorträge für 2025 zugesagt, einen über Schwertnamen und einen über Kristalle, die wahrscheinlich auch Paper bzw. Kapitel in meinem zweiten Buch werden. Daneben gebe ich Workshops zu Medieval Trans Studies und Data Awareness und organisiere zusammen mit Rike Szill einen Roundtable zum Thema Intersektionalität. Was Game Studies betrifft, findet mich das nächste große Ding für mich meistens zufällig, während ich spiele oder einen Film gucke, denke ich mir so: Oh no, das wird wieder ein Aufsatz werden müssen.
LH: Leider bleibt in der Tat recht selten Zeit. Ein Vorteil in meiner Arbeit am Schnittpunkt zwischen Uni und Schule ist, dass ich es häufig mit Serious Games zu tun habe – zu denen ich etwa Lehrmaterial erstelle. Die Spiele haben meist eine kürzere Spieldauer, und die kann ich dann auch in Ruhe durchspielen – zuletzt habe ich etwa Material zu Spuren auf Papier, Attentat 1942 oder Forced Abroad vorbereitet, The Darkest Files kommentiert oder bin gerade dabei zu Erinnern – die Kinder vom Bullenhuser Damm Unterrichtkonzepte zu entwickeln. In meiner Playstation wartet allerdings auch seit geraumer Zeit A Plague Tale: Requiem darauf, dass ich mal weiterspiele. Aktuelle Games-Projekte sind das Januarheft der Zeitschrift Geschichte Lernen zu digitaler Geschichtskultur, ein Sammelband zu Games & Frühe Neuzeit mit Tobias Winnerling, Fortbildungen und Seminare und gerade entwickle ich mit meinen Studierenden ein Brettspiel.
AB: Ich wechsle privat inzwischen viel zwischen ein paar persönlichen Dauerbrennern wie z.B. Sims 4 und/oder Crusader Kings 3 hin und her. Das letzte andere Spiel, das ich nicht aus beruflichen Gründen gespielt habe, war Coral Island und davor hat mich Stray Gods sehr begeistert.
Bei Projekten habe ich immer die Tendenz, bei (wahrscheinlich zu) vielen Dingen gleichzeitig herumzuwuseln. Mein aktuell wichtigstes Projekt ist natürlich meine Dissertation, abgesehen davon schreibe ich gerade noch an zwei Papern über den deutschsprachigen Spielejournalismus 1980-2000, einmal allein und einmal mit Christian Günther, und arbeite gemeinsam mit dem ZK des AKGWDS an verschiedenen großen und kleinen Projekten u.a. rund um das zehnjährige Jubiläum des AKs nächstes Jahr.
RTI: Zuletzt darf ich den Rahmen noch ein wenig weiter öffnen – wie seht Ihr die deutschsprachige Spielforschung aktuell? Seht Ihr Entwicklungen? Trends?
ALVB: Ich bin aus der germanistischen Mediävistik, einem Fach, in dem man Menschen, die Game Studies machen, noch (!) an einer Hand abzählen kann. Über den AK bin ich sehr in einer Bubble von Mittelalter- und Frühe Neuzeit-Rezeption gelandet. Insofern kann ich das nicht gut einschätzen.
LH: Die deutschsprachige Spielforschung zur Epoche der Frühen Neuzeit hat Nachholbedarf – daher haben wir dazu jüngst die Tagung organisiert. Die Forschung zum Bereich Games & Geschichtsvermittlung in der Schule wird tatsächlich besser. Es sind in den letzten Jahren viele hilfreiche Handreichungen entstanden – der nächste Schritt wäre nun, dass auch die »Praxis« nachzieht. Denn in Unis und Schulen wird trotzdem noch immer zu wenig auf das Medium zurückgegriffen. Ich wünsche mir zudem einen stärkeren Dialog zwischen der Forschung zu digitalen und analogen Spielen. Eine positive Entwicklung zuletzt: der Dialog zwischen Forschung, Vermittlung und Studios wird immer besser, in einem so dynamischen Feld wie den Game Studies gehört das für mich zur Forschung dazu. Beratung und Austausch wird selbstverständlicher, auch bewusste kritische Auseinandersetzung bezogen auf Serious Games und Remembrance Games bis hin zu AAA-Spielen.
AB: Ich tue mich auch immer etwas schwer, bei solchen Fragen quasi in die Glaskugel zu gucken. Im Moment habe ich den Eindruck, dass es mehr Bestrebungen gibt, Strukturen zu verfestigen, die ohnehin da sind, und in der Geschichtswissenschaft, die ja auch sozusagen meine Heimatdisziplin ist, kann man inzwischen mit Spielen als Thema schon mehr erreichen als früher. Das sind immer noch kleine Schritte, aber sie sind da, das ist schon einmal etwas und es ist zu hoffen, dass diese Schritte nicht das Ende der Fahnenstange sind. Gerade beim AKGWDS arbeiten wir aber natürlich wie schon seit Jahren weiter hart daran, Forschung zu Spielen und Spielkulturen auch hierzulande weiter voranzutreiben.
Titelangaben
van Beek, Alan Lena; Haasis, Lucas; Brandenburg, Aurelia: Zeitenwende
Interdisziplinäre Zugänge zum Spiel Pentiment. Band 4 Mittelalter
Interdisziplinäre Forschung und Rezeptionsgeschichte, 2024.
https://doi.org/10.26012/mittelalter-32225
Weiterführende Kontaktmöglichkeiten
Alan Lena van Beek auf Bluesky
Lucas Haasis auf Bluesky
Aurelia Brandenburg auf Bluesky
Youtube-Interview mit Josh Sawyer, Director Pentiment