Der Hammer verändert die Welt

Roman | Hansjörg Schertenleib: Jawaka

Der abwechselnd in Irland und im Kanton Aargau lebende Schriftsteller Hansjörg Schertenleib hat sich auf völlig neues literarisches Terrain begeben. Der 58-jährige Autor, der zuletzt die von der Kritik hoch gelobten, dem Realismus verpflichteten und in der Gegenwart angesiedelten Romane ›Das Regenorchester‹ (2008), ›Cowboysommer‹ (2010) und ›Wald aus Glas‹ (2012) vorgelegt hatte, gehört zu den renommiertesten Stimmen der Schweizer Gegenwartsliteratur. Nun schickt uns Schertenleib auf ziemlich abenteuerliche Weise in die Zukunft: »Beim Schreiben merkte ich, dass mir die Welt, die ich da entwickelt hatte, viel besser gefällt als die Gegenwart.« – PETER MOHR hat seinen neuen Roman ›Jawaka‹ gelesen.

Schertenleib JawakaDer neue Roman Jawaka von Hansjörg Schertenleib spielt auf drei unterschiedlichen, sich spiegelnden Erzählebenen. Ein Schriftsteller arbeitet im Jahr 2021 in Kapstadt an verschiedenen literarischen Projekten. Er steht dabei unter dem Eindruck gewaltiger Umweltkatastrophen und blutiger Anschläge von politischen und religiösen Extremisten. Die Welt ist aus den Fugen geraten, und Schertenleibs Handlungsautor begibt sich auf eine doppelte literarische Zeitreise, »in Sicherheit und Obhut der Fiktion, unbehelligt von der Welt und ihren Problemen«. Er fantasiert sich in das Jahr 2057, in eine postapokalyptische Gesellschaft, in der es fast keine Technik mehr gibt und die Menschen ein beinahe archaisches Dasein in der Natur fristen. Mit viel Liebe zum Detail verleiht Schertenleib dieser Erzählebene dämonisch-märchenhafte Züge.

Im Mittelpunkt steht der junge Schreiner Anatol Glaub, der seinen abtrünnigen Vater sucht, der mit einer jüngeren Frau urplötzlich verschwunden ist. Anatol muss später selbst aus seinem Dorf fliehen, weil er dem Liebhaber seiner Mutter ein Messer in die Brust gerammt hat. Er zieht bei Eis und Schnee los, überschreitet eine Grenze und landet bei den »Katzenfressern« in einer religiös-feinsinnigen Gemeinschaft. Der junge Anatol findet dort nicht nur eine zarte Liebe, sondern er begegnet in einem Bunker sogar seinem Vater – umgeben von Bergen von Büchern.

Um eine nicht minder komplizierte Vater-Sohn-Beziehung geht es auch auf der zweiten eingeschobenen Erzählebene, auf der ein betagter Schweizer Künstler in Irland (Schertenleibs Zweitheimat lässt grüßen!) eine Art Lebensbilanz zieht und per Zufall erfährt, dass aus einer lange vergangenen Beziehung zu einer Nachbarin ein inzwischen erwachsener Sohn hervor gegangen ist. »Wir sind das, an das wir uns erinnern.«

Hansjörg Schertenleibs Roman, dessen Titel auf ein 1972 erschienenes Album seines musikalischen Jugendidols Frank Zappa anspielt, ist vollgestopft mit Erinnerungen, Fiktionen, dunklen Visionen und Albträumen eines tief beunruhigten und verunsicherten Zeitgenossen, der sich der Ohnmacht der Künstler bewusst ist: »Es ist der Hammer, der die Welt verändert, du Narr, nicht die Feder.«

›Jawaka‹ ist ein erzählerisches Monstrum mit tragischem Ende, das nicht gelesen, sondern gebändigt und bezwungen werden will. Eine echte Herausforderung, die bei einmaliger rascher Lektüre kaum zu bewältigen ist.

| PETER MOHR

Titelangaben
Hansjörg Schertenleib: Jawaka
Berlin: Aufbau 2015
382 Seiten, 25 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Hansjörg Schertenleib in TITEL kulturmagazin

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Nur ein Hauch und doch so wahr

Nächster Artikel

Gläserne Abgründe

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Zwischen Manie und Melancholie

Roman | Leon Engler: Botanik des Wahnsinns

»Meine Familie hat ein Talent für Verrücktheit«, konstatiert der junge Mann, der sein Leben seziert und mal mit leichter Ironie, mal betont wissenschaftlich analysiert, systematisiert, als sei es eine Botanik des Wahnsinns. Doch wie kann man den familiären Prägungen entkommen, fragt Leon Engler in seinem Debütroman, der auf fantasievolle Weise Fiktion mit Faktenwissen vermengt. Von INGEBORG JAISER

Lockdown im Slough House

Roman | Mick Herron: London Rules

Zum fünften Mal müssen sie Kopf und Kragen riskieren: Jackson Lamb und die unter seiner Führung stehenden aussortierten Agenten des MI5. Denn nachdem die halbe Einwohnerschaft eines idyllischen Dorfes in Derbyshire von einer fünfköpfigen Söldnertruppe ausradiert wurde und mitten in London ein Pinguingehege in die Luft geflogen ist, versuchen sich dunkle Kräfte auch noch an einem Anschlag auf Lambs Computerspezialisten Roderick Ho. Spätestens jetzt wachen das »dösende Nilpferd« Lamb und seine »lahmen Gäule« auf und beginnen, Antworten auf Fragen zu suchen, die ihnen niemand gestellt hat. Doch Unruhe bei den Kaltgestellten wird auch in der Geheimdienstzentrale am Regent's Park registriert. Und damit Lamb und die Seinen nicht noch mehr durcheinanderbringen, verhängt man über das »Slough House« kurzerhand einen Lockdown. Von DIETMAR JACOBSEN

Eine Reise ins Nichts

Roman | Michel Houellebecq: Vernichten

Diesmal ist es kein islamistischer Terror, der in Michel Houellebecqs neuestem Roman Vernichten heraufbeschworen wird. Das 600 Seiten starke Buch des »Sehers der Moderne« richtet sich – wie zuletzt auch in Serotonin (2019) – nach innen: diesmal auf den Zerfall der Familie (oder besser gesagt, den vielleicht vergeblichen Versuch, diese zu kitten) und auf den Rückzug des Ichs. Dieser Rückzug des Menschen auf das Private, diese Innenschau wird unterstützt durch die neuesten Apparaturen der medizinischen Diagnose. Es kommt also noch mehr zum Vorschein als der Frust über menschliche Beziehungen. Von HUBERT HOLZMANN

Blaubart als Gipfelstürmer

Roman | Thomas Glavinic: Das größere Wunder Was sucht ein Mensch am Gipfel des Mount Everest? Eigene Grenzen zu überschreiten, die Natur, sich selbst zu bezwingen? Jedenfalls hat der Held Jonas in Thomas Glavinic neuem Roman Das größere Wunder in seinem Leben alles erreicht, was man sich selbst in den kühnsten Vorstellungen nur zu erträumen wagt. Gleichzeitig hat er die Tiefen menschlicher Existenz durchwandert. Und was nun? – fragt sich auch HUBERT HOLZMANN.

Die Rache des Phantoms

Roman | Alex Beer: Felix Blom. Der Häftling aus Moabit

Berlin 1878. Als der Dieb und Betrüger Felix Blom nach drei Jahren Einzelhaft wieder freikommt, stehen zwei Dinge auf seiner Agenda: sich an dem Mann zu rächen, der ihn mit einem hinterhältigen Trick ins Gefängnis gebracht hat, und wieder in jene Kreise aufzusteigen, in die er es schon einmal geschafft hatte. Allein er hat mächtige Widersacher. Die Polizei sähe den raffinierten Burschen, der sie jahrelang an der Nase herumgeführt hat, am liebsten wieder sicher verwahrt. Und sein Konkurrent um die Gunst der schönen Auguste Reichenbach, Baron Albert von Mesar, beeilt sich, der begehrten Bürgerlichen einen Antrag zu machen, um nicht noch einmal ins Hintertreffen zu geraten. Und schließlich ist da auch noch ein Psychopath mit Todesankündigungen unterwegs, auf dessen Schwarzer Liste Blom ziemlich weit oben zu stehen scheint, ohne dass er weiß, womit er sich diese zweifelhafte Ehre verdient hat. Von DIETMAR JACOBSEN