»Jetzt kommen sie und holen Jakob.« So eröffnete Norbert Gstrein 1988 seine erste literarische Veröffentlichung, die schmale Erzählung Einer. Nun steht ein Schauspieler namens Jakob Thurner im Mittelpunkt des neuen Romans Der zweite Jakob, der sich wie eine künstlerische Zwischenbilanz des österreichischen Autors liest, der im Juni seinen 60. Geburtstag feierte. Von PETER MOHR
Längst gehört der seit einigen Jahren mit seiner Familie in Hamburg lebende Schriftsteller zu den arrivierten Autoren der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Der Österreicher hat sich in der Vergangenheit wiederholt brisanten Themen gewidmet. Nach dem Balkankrieg (Das Handwerk des Tötens) und einer gegen Suhrkamp-Chefin Ulla Berkéwicz gerichteten Roman-Persiflage (Die ganze Wahrheit) standen zuletzt in In der freien Welt (2016) der Nahostkonflikt und in Die kommenden Jahre (2018) die Flüchtlingsströme im Mittelpunkt. Sein bisher letzter Roman (Als ich noch jung war, 2019), der mit dem Österreichischen Buchpreis ausgezeichnet wurde, fiel etwas aus dem Rahmen, da er stärker auf die private Sphäre einer einzelnen Figur fokussiert war und zumindest vordergründig sogar Thrillermotive beinhaltete.
Jetzt geht es also wie schon beim Debüt 1988 wieder um einen Jakob, diesmal um einen Schauspieler, der – wie Gstrein – vor seinem 60. Geburtstag steht. Der Name Jakob fungiert bei Gstrein als eine Art Synonym für kauzige Außenseiter. Als entferntes Vorbild für diese etwas »schwierigen« Jakob-Figuren diente vermutlich Gstreins Onkel Jakob, der so völlig anders war als alle anderen Menschen im Dorf – ein introvertierter Sonderling, der ganz viel las.
Gstreins Protagonist Jakob Thurner hat drei Ehen hinter sich, hat auf deutschen Theaterbühnen respektable Erfolge gefeiert und sogar in den USA vor der Kamera gestanden. Aber er bleibt von der ersten bis zur letzten Seite eine innerlich zerrissene Figur – ein Mann, der zwischen Arroganz und Selbstzweifel pendelt, ein ewig suchender Heimatloser, getrieben von einer beängstigend starken inneren Unruhe.
Mit großem Unbehagen begegnet er dem Journalisten Elmar Pflegel, der an einer Biografie über ihn arbeitet und ihn mit boulevardesken Fragen bombardiert, etwa, ob Jakobs Verbrauch an Ehefrauen etwas mit seinen Rollen zu tun habe, da er häufig Frauenmörder spielte.
Jakob reklamiert für sich die Allmacht über sein Leben, die alleinige Deutungshoheit. Norbert Gstrein spielt hier geschickt mit unterschiedlichen Sicht- und Interpretationsweisen einer Biografie. Zwischen äußerer Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung entsteht eine große Kluft. Ein bekannter Schauspieler wie Thurner wandelt auf einem extrem schmalen Grat – zwischen dem, was er spielt, was die Öffentlichkeit als ›Bild‹ verlangt und dem, was er wirklich selber ist oder was er vorgibt zu sein. »Dass jemand etwas über mich sagen konnte, und sei es das Beste, war das Problem, und nicht etwa, dass dieser Jemand nicht dazu befugt gewesen wäre oder vielleicht ein Dummkopf war«, bekennt Jakob.
Eine wichtige Rolle in diesem komplex angelegten Roman spielt Thurners Tochter Luzie, die irgendwann ihren Vater fragt, was das Schlimmste gewesen sei, was er im Leben getan hat. Jakob gesteht, als Beifahrer an einem Unfall mit Fahrerflucht beteiligt gewesen zu sein, bei dem eine Frau starb.
Sind es die daraus resultierenden Schuldgefühle, die bei der Hauptfigur immer wieder einen Fluchtimpuls auslösen? Jakob will allen Feierlichkeiten zu seinem Geburtstag aus dem Weg gehen. Sein steirisches Heimatdorf veranstaltet ein großes Fest, eine in China gefertigte Statue, die asiatische Gesichtszüge aufweist, wird enthüllt. Ein dummer Zufall? Oder wird so dem entfremdeten Sohn des Ortes gedacht?
Gegen Ende reisen Luzie und Jakob doch ins Heimatdorf, und die Tochter von Anfang zwanzig schlüpft peu à peu in die Rolle einer intuitiven Therapeutin. Aber richtig nahe kommt man als Leser der herrlich disparat gezeichneten Hauptfigur doch nicht. Ein sensibler Künstler, der mit sich selbst und seiner geografischen Heimat hart ins Gericht geht. Wie viel von Norbert Gstrein in der Jakob-Figur steckt, mag jeder Leser individuell herausfinden. »War ich eine ebenso tragische wie lächerliche Figur, bei der sich am Ende Kunst und Leben nicht mehr unterscheiden ließen?«, heißt es im Text. Treffender lässt es sich nicht formulieren.
Titelangaben
Norbert Gstrein: Der zweite Jakob
München: Hanser 2021
445 Seiten. 25.- Euro
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