Roman | Norbert Gstrein: Die kommenden Jahre
Der 57-jährige österreichische Schriftsteller Norbert Gstrein ist bekannt dafür, dass er keinen großen Bogen um brisante Themen macht. Nach dem Balkankrieg (›Das Handwerk des Tötens‹) und einer gegen Suhrkamp-Chefin Ulla Berkéwicz gerichteten Roman-Persiflage (›Die ganze Wahrheit‹) hatte er sich zuletzt in seinem Roman ›In der freien Welt‹ (2016) mit dem Nahostkonflikt auseinander gesetzt. Jetzt ist Norbert Gstreins neuer Roman ›Die kommenden Jahre‹ erschienen. Von PETER MOHR
Nun widmet er sich dem Thema Flüchtlinge, eingebettet in eine handfeste Beziehungskrise eines gut situierten Ehepaars in den mittleren Jahren. »Ich erschrak, als sie wissen wollte, ob ich glücklich sei«, geht es dem Glaziologen Richard durch den Kopf, der weltweit Vorträge über den Klimawandel, speziell über das »Abtauen« der Eisberge und Gletscher hält. Verheiratet ist er mit der hyperaktiven Schriftstellerin Natascha, die ihm berufsbedingte Gefühlskälte und seine Kindheit in der Abgeschiedenheit der Tiroler Berge vorhält.
Das Paar lebt mit der gemeinsamen Tochter Fanny im Jahr 2015 in Hamburg, als Natascha die syrische Flüchtlingsfamilie Farhi (ein Ehepaar mit zwei Söhnen) aufnimmt und in ihrem Wochenendhaus in Mecklenburg unterbringt. Natascha geht in diesem Engagement völlig auf, während sich ihr Ehemann (»Wächter der gefrorenen Riesen«) mit Auswanderungsgedanken nach Kanada beschäftigt.
Nataschas Hilfsbereitschaft stößt in der mecklenburgischen Einöde auf wenig Gegenliebe ihrer dortigen Nachbarn. Es entsteht ein hochexplosives Gemisch aus Denunziationen und Lügen. Zwielichtige Gestalten tummeln sich in der Dunkelheit rund um das Haus und wecken Ängste bei den Farhis. Natascha weckt das Interesse der Medien, lockt Kamerateams zum Wochenendhaus und nimmt (ob gewollt oder im Übereifer sei dahingestellt) eine Eskalation in Kauf. Fakten und Meinungsmache, Sensationslust und Betroffenheit lässt Autor Gstrein in seiner Schilderung der Medienpraxis bewusst verschwimmen.
Aus Protagonistin Natascha wird man nicht so recht schlau. Sie will Vater Farhi für ein Schreibprojekt gewinnen. Ist das nun künstlerisch inspiriert, als Therapie für den traumatisierten Flüchtling intendiert? Oder stecken eigene, ganz egoistische schriftstellerische Interessen dahinter?
Als die syrische Familie zum Christentum konvertieren will, bricht für Natascha eine Welt zusammen. In ihren Augen kommt es beinahe einem Verrat an der von ihr gepriesenen Multikulturalität gleich. Der Duktus der Besserwissenden wächst sich bei ihr zur Intoleranz aus.
Der zurückhaltendere Richard wird von seiner Frau auch immer stärker in diese nebulöse Melange aus Hilfsbereitschaft und Fanatismus hineingezogen, er träumt bisweilen von der Abgeschiedenheit seiner geliebten Eislandschaften und bandelt während einer Vortragsreise in den USA vorüber gehend mit einer mexikanischen Kollegin an.
Das Paar hat sich offensichtlich auseinandergelebt und ist nicht mehr bereit (oder sogar nicht in der Lage) einander zuzuhören. Ein unsichtbarer Keil trennt sie voneinander. Ein Keil, der tief sitzt und radikal gespalten hat. So wie auch bei der kontroversen Flüchtlings-Auseinandersetzung zwischen Philanthropen und Ausländerfeinden, die sich gleichwohl auf so etwas wie eine höhere moralische Instanz berufen und deren dogmatisches Denken beiderseitig von größter Intoleranz und Ignoranz geprägt ist.
Norbert Gstrein beschreibt einen nicht zu bremsenden, omnipräsenten Umbruchprozess. Gewaltige Zäsuren stehen an – im Privaten wie im Politischen. Was bringen die kommenden Jahre? Was für Richard, der von der Midlife-Crisis so kräftig durchgeschüttelt wurde? Hat er mit Natascha damals gar die falsche Frau geheiratet? Fühlte er sich nicht zu deren vor elf Jahren tödlich verunglückter Zwillingsschwester Katja viel stärker hingezogen? Wie entwickelt sich unsere Gesellschaft unter den nicht abebbenden Flüchtlingsströmen? Integration oder Leben in Parallelwelten? Und was geschieht angesichts des Klimawandels mit Richards so geliebten Eisbergen?
Alles ist hier in Bewegung. Nur – wohin führt der Weg? Existenzielle Zukunftsängste privater und gesellschaftlicher Natur hat niemand in jüngster Zeit nebeneinander so authentisch und gleichzeitig hoch poetisch thematisiert.
Mit einem Satz aus Johann Gottfried Seumes ›Apokryphen‹ lässt sich der Tenor in Norbert Gstreins Roman ›Die kommenden Jahre‹ treffend auf den Punkt bringen: »Wenn wir nicht von vorne anfangen, dürfen wir nicht hoffen, weiter zu kommen.«
Titelangaben
Norbert Gstrein: Die kommenden Jahre
München: Carl Hanser Verlag 2018
285 Seiten. 22 Euro
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