Immer noch nicht hat der pensionierte Kommissar Konráð das Rätsel um den Tod seines Vaters gelöst. Da bringt ihn ein schockierender Leichenfund in einem Reykjavíker Wohnhaus auf die nächste Spur. Handelt es sich bei dem menschlichen Skelett, das man hinter einer Kellerwand entdeckt hat, etwa um den damals blitzschnell vom Tatort verschwundenen Mörder? Konráð beginnt, auf eigene Faust zu ermitteln, denn seine Ex-Kollegen trauen ihm nicht mehr. Und schnell muss er erkennen, dass ein Jahrzehnte alter Fall auch in der Gegenwart noch für reichlich Unruhe sorgen kann. Von DIETMAR JACOBSEN
Auch nachdem er in Pension gegangen ist, hat der ehemalige Kriminalpolizist Konráð noch gute Beziehungen zu seinen Ex-Kollegen. Vor allen Dingen mit Marta versteht er sich nach wie vor hervorragend. Doch auch sie will sich plötzlich keine Informationen mehr entlocken lassen, als im Keller eines Hauses in der Reykjavíker Weststadt ein eingemauertes Skelett entdeckt wird.
Offenbar hat man bei der Polizei beschlossen, alle Kanäle, über die vertrauliche Informationen an die Öffentlichkeit gelangen könnten, zu schließen. Dabei ahnt Konráð schon bald, dass der Fall mit der Suche nach dem Mörder seines Vaters zu tun haben könnte, die er seit seiner Pensionierung obsessiv betreibt.
Ein Skelett hinter der Kellerwand
Wand des Schweigens ist der vierte Roman des isländischen Bestsellerautors Arnaldur Indriðason (Jahrgang 1961) um den Reykjavíker Ex-Polizeikommissar Konráð. Wie in den vorangegangenen drei Bänden treibt den Pensionär erneut ein Jahrzehnte zurückliegendes Verbrechen um, während er sich gleichzeitig darum bemüht, endlich Gewissheit darüber zu erlangen, wer für den gewaltsamen Tod seines Vaters im Jahr 1963 verantwortlich war. Der Mann mit dem Spitznamen Seppi war ein Tunichtgut gewesen, der sich mit Betrügereien zahllose Feinde gemacht hatte. In der Familie verhasst, weil er seine Frau schlug und die gemeinsame Tochter sexuell missbrauchte, war er am Abend desselben Tages auf offener Straße erstochen worden, an dem der junge Konráð ihn zur Rede gestellt und sich nach einem heftigen Streit sogar mit ihm geprügelt hatte.
Es ist ein Manschettenknopf, der Konráð auf eine neue Spur bringt. Jahre nach dem Mord im Glutkasten eines der drei Räucheröfen des Schlachthofes, vor dem der Vater auf offener Straße erstochen wurde, gefunden, könnte er sowohl eine Erklärung dafür liefern, wo sich der Täter nach der Tat noch für eine Weile versteckt hielt, als auch dafür, in welchen Kreisen er zu suchen gewesen wäre, hätte man den Knopf rechtzeitig entdeckt. Denn das Fundstück identifiziert denjenigen, der es an dem ungewöhnlichen Ort verloren hat, eindeutig als Mitglied der Reykjavíker Freimaurer-Loge.
Ein Freimaurer im Räucherofen
Geschickt verbindet Indriðasons Roman – erneut in seiner nüchternen Diktion hervorragend ins Deutsche übertragen von Kristof Magnusson – drei Handlungsebenen miteinander: die aktuelle Suche des selbst einst von der Polizei des Mordes an seinem Vater verdächtigten Konráð nach dem wahren Täter, die tragische Geschichte jener Familie, die das Haus, in dessen Kellerwänden in der Gegenwart ein grausiger Fund gemacht wurde, Ende der 70er Jahre umbaute, und die Historie eines Einbruchs mit fatalen Folgen. Denn was drei jungen Männern im Haus des angesehenen Arztes Dr. Heilman neben Geld, Schmuck und anderen leicht loszuschlagenden Wertgegenständen in die Hände fällt, könnte dessen Karriere mit einem Schlag beenden, käme es in die Öffentlichkeit. Und deshalb schreckt der Biedermann vor nichts zurück, um die kompromittierenden Beweisstücke wieder in seinen Besitz zu bringen, Mord inbegriffen.
Rund um seine Zentralgestalt, die er mit einigen menschlichen Schwächen ausgestattet hat, so dass man bei Konráð nicht unbedingt von einem sympathischen Zeitgenossen sprechen kann, hat der isländische Bestsellerautor eine ganze Reihe interessanter Nebenfiguren platziert, mit denen es ihm nicht zuletzt gelingt, einen Blick hinter die bunten Kulissen des touristischen Hotspots Island, des gastfreundlichen Landes der Gletscher und Vulkane, zu werfen. Das reicht vom Alkoholismus – Marta, Konráðs Bekannte bei der Kriminalpolizei, ist aufgrund ihrer Alkoholprobleme vom Dienst suspendiert, Konráð selbst greift nicht selten zur Flasche – bis zum damit in Zusammenhang stehenden Hang zur Gewalt gegen Frauen und Kinder.
Ein Held mit vielen Defiziten
Am Ende des Romans ist Konráð, was den Mörder seines Vaters und dessen Motiv betrifft, zwar ein gutes Stück vorangekommen, doch privat steckt er nach wie vor in einer ganzen Reihe von Klemmen. Die Beziehung zu seinem Sohn Húgó, der schockiert war zu erfahren, dass der Vater die vor Jahren verstorbene Mutter zu deren Lebzeiten jahrelang mit ihrer besten Freundin betrogen hat, ist an einem Tiefpunkt angekommen. Und auch zu Svanhildur, der einstigen Geliebten, führt wohl so schnell kein Weg mehr zurück. »Irgendwie geriet er immer in Situationen, in denen es ihm ebenso falsch erschien zu handeln, wie nicht zu handeln«, muss er schließlich selbst einsehen. Und so bleibt Konráð als einziger beständiger menschlicher Kontakt wohl auch in dem – in Island bereits erschienenen – fünften Band der Reihe lediglich die gleichaltrige Eygló. Einst hatten ihre Väter zusammen die Welt betrogen. Nun mühen sich ihre Nachkommen, ein anderes Leben zu führen und den Schaden, den das Gaunerduo angerichtet hat, wieder ein bisschen gutzumachen.
Titelangaben
Arnaldur Indriðason: Wand des Schweigens
Übersetzung aus dem Isländischen von Kristof Magnusson
Köln: Lübbe 2022
398 Seiten. 22,90 Euro
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