Roman | Thomas Brussig: Beste Absichten
Wenn Thomas Brussig erzählt, wird es nie langweilig. Nur aufpassen muss man. Denn leicht verleitet den Berliner Autor sein Temperament, den schmalen Grat zwischen Verbürgtem und Hinzufantasiertem zu überschreiten. Von DIETMAR JACOBSEN
Und weil Brussig sich selbst und wohl auch den Ruf, den er unter Lesern und Kritikern besitzt, ziemlich gut kennt, hat er den drei Teilen seines neuen Romans Beste Absichten je eine kleine Anekdote vorangestellt. Geschichten, die klingen, als wären sie glatt erfunden, obwohl sie wahr sind Wort für Wort. Was Brussigs eigene Erzählung wohl beglaubigen soll. Denn »wenn es möglich ist, dass jemand einen Weltrekord erzielte, der vor der Welt verborgen blieb, dann ist es auch möglich, dass es eine große Band gab, die niemand kannte.«
Am 12. September 1976 stellte der DDR-Kugelstoßer Rolf Oesterreich bei einem Wettkampf im sächsischen Zschopau einen neuen Weltrekord auf. Doch seine 22,11m fanden nie Eingang in die Leichtathletik-Statistiken. Fünf Jahre vorher, im Mai 1971, versuchte der Autoschlosser Hans-Jürgen K. aus Wilhelm-Pieck-Stadt Guben, der DDR mit einem ausrangierten Armeehubschrauber zu entkommen, der auf dem Abenteuerspielplatz des Kindergartens »Meister Nadelöhr« seinen letzten Platz gefunden hatte. Und zwei Monate später im selben Jahr glaubte eine im Thüringer Oberhof ihren Urlaub verbringende Familie ihren Augen nicht zu trauen, als sie auf dem nahegelegenen Stausee der Lütsche-Talsperre ein Cabrio der bekannten DDR-Pkw-Marke Wartburg beim amphibischen Navigieren beobachtete.
Drei Anekdoten aus der 1990 untergegangenen ostdeutschen Republik, die an ähnlich verrückten Geschichten nicht gerade arm war. Verstand sich der Landstrich doch – zumindest im Verständnis seiner Planer und Leiter – als »die größte DDR aller Zeiten«. Und einer, in dessen Büchern seit Helden wie wir (1995) und Am kürzeren Ende der Sonnenallee (1999) immer wieder mit Witz und Selbstbewusstsein an jene Tage erinnert wird, als Ost und West noch durch eine Mauer getrennt waren, die eingesperrte Ostverwandtschaft aber dennoch irgendwie ihr Leben lebte – sexuell äußerst aktiv sollen sie gewesen sein, wohl weil ihnen sonst nicht viel blieb – und fiktive Literatur vor allem auf den Seiten des »Neuen Deutschland« zu finden war, ist Thomas Brussig.
Erinnern Sie sich noch an Rolf Oesterreich?
Nun hat der Berliner Autor einem etwas umfangreicheren Buch – ›Das gibt’s in keinem Russenfilm‹(2015) – mit ›Beste Absichten‹ wieder einen pointierten, von Witz, Satire, Ironie und, ja, auch tieferer Bedeutung getragenen Text folgen lassen. Erzählt wird die Geschichte einer Band mit dem wenig anschmiegsamen Namen »Die Seuche« und ihres Managers. Dem geben die fünf jungen Musikanten, als sie zum ersten Mal in den Genuss seines erfindungsreichen Organisationstalents kommen – er beschafft eine Tür für ihren Kellerprobenraum und endlich muss nicht immer einer Nachtwache bei den Instrumenten schieben –, den Namen Äppstiehn. Zur Erinnerung: Brian Epstein (1934-1967) hat den Beatles und anderen Liverpooler Bands als deren Manager zum Durchbruch verholfen. Und natürlich will »Die Seuche« auch auf den Olymp der Popmusik. Äppstiehn soll’s richten.
Der tut, was er kann. Beschafft der Band, die ohne Einstufung nicht öffentlich auftreten darf, Gigs auf Familien- und anderen Festen in den liebevoll »Fresswürfel« genannten Gaststätten der ostdeutschen Plattenbausiedlungen. Geht mit Demobändern hausieren und versucht, bekannte Radiomoderatoren für »Die Seuche« einzunehmen. Besorgt Geld, um die dürftige Ausrüstung der begabten Truppe zu veredeln – etwa indem er zu Zeiten der Prager Botschaftsbesetzung den dorthin geflüchteten, ausreisewilligen DDR-Bürgern für eine kleine Summe Westgeld ihre zurückgelassenen Autos abkauft, um sie, zurück in Berlin, sofort wieder weiterzuverkaufen an jene vielen PS-Hungrigen in der DDR, die jahrelang auf ihren fahrbaren Untersatz warten mussten.
Wenn das Leben die Musik ersetzt
Nein, man kann dem als Portier im Berliner Hotel Metropol sein Geld verdienenden Mann – Achtung! Brussig-Biographie nachschlagen! – keinen Vorwurf machen: Er tut, was möglich und notwendig ist. Und trotzdem scheitert das Unternehmen »Weltruhm durch Musik und den ultimativen Wendesong« an der Zeit – da nutzt nicht einmal die »Sturheit eines Auftragskillers«, mit der sich Äppstiehn seiner Aufgabe verschrieben hat. Plötzlich nämlich ersetzt den fünf jungen Männern und ihrer wunderbaren Sängerin die Musik nicht mehr das Leben, sondern das, was sich auf den Straßen und Plätzen während der Wendezeit 1989/90 tut, spielt jetzt die erste Geige.
Wenn sich die Musiker deshalb ein paar Jahre später zum ersten Mal wiedersehen, hat jeder von ihnen seinen eigenen Weg eingeschlagen. Nur einer aus der Band macht noch Musik, allerdings experimentelle. Von den anderen hat der Erste eine Szenekneipe aufgemacht, der Zweite ist mit einem Fahrradkurierservice reich geworden, der Dritte repariert Computer und Silke, die Sängerin, schlägt sich als Messe-Hostess und Bühnentechnikerin durch. Äppstiehn selbst hat sich an einem Jurastudium versucht – »Ihr Ostler müsst Jura studieren, sonst werdet ihr alle auf das furchtbarste verarscht«, hat ihm einer seiner Westverwandten bei einem Besuch eingetrichtert –, später aber doch lieber wieder auf die ihm angeborenen Talente vertraut.
New York, New York!
Einen Wunsch freilich erfüllt man sich noch von dem Geld, das bei der Autoaufkauf- und Wiederverkaufsaktion eingenommen wurde und eigentlich in die Karriere der »Seuche« gesteckt werden sollte: eine Reise nach New York. Und da kommt es dann zu einem märchenhaften Finale im »Big Apple«, bei dem alle noch einmal zu den Instrumenten greifen und einen Abend lang die sind, die sie nie werden konnten: die beste Band der Welt. Ob von der Bar des kleinen Szenelokals aus tatsächlich Yoko Ono zugehört hat, wie Silke behauptet, bleibt dahingestellt. Mit ihrem Wendehit »Es ist was passiert« aber sorgen die Musiker im nächtlichen New York vor Obdachlosen und Passanten ein letztes Mal für Furore, so dass sie in ihr Leben zurück der Satz eines der Zuhörer begleitet: »These guys are The Doors of Germany.«
Mit ›Beste Absichten‹ hat Thomas Brussig fortgeschrieben, was seit Mitte der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts sein großes Projekt ist: Literarisch festzuhalten, dass es im östlichen Deutschland, einem Land, das gerade mal vierzig Jahre lang existierte, mit großen Ideen angetreten war und unter anderem an seiner Kleinlichkeit scheiterte, auch ein Leben gab. Nichts Berauschendes, kein Fest. Aber den tagtäglichen Widerstand gegen Dummheit und Indoktrination, den vor allem die Jungen leisteten. Und die Musik, in der sie sich lebendiger wiederfanden als auf den Straßen, Plätzen und unter den Spruchbändern und Fahnen ihrer langweilig-maroden Republik.
Titelangaben
Thomas Brussig: Beste Absichten
Frankfurt/Main: S. Fischer Verlag 2017
190 Seiten, 18,- Euro
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