Laurent Binets Romane werden in Frankreich regelmäßig prämiert und zu Bestsellern. Sein neuestes Werk Eroberung (frz. Civilizations) wurde 2019 mit dem renommierten Grand Prix du roman der Académie française ausgezeichnet. Der Pariser Schriftsteller schreibt in diesem Roman die europäische Kolonialgeschichte von Grund auf neu, indem er die Rollen der Kolonisatoren und Kolonisierten vertauscht, und entwirft mit großer Fabulierlust eine Alternativgeschichte des frühneuzeitlichen Europas – ein ereignis- und abenteuerreiches Vergnügen vor allem für historisch Interessierte. Von FLORIAN BIRNMEYER
Laurent Binet stellt in Eroberung die Frage, was geschichtlich hätte sein können, wenn die Dinge anders verlaufen wären, als dies tatsächlich der Fall war. Innerhalb der Geschichtsschreibung gibt es eine eigene Unterdisziplin, die sich auf spekulative Art mit alternativer oder kontrafaktischer Geschichte befasst. Diese Disziplin sucht mithilfe von Quellen- und Faktenstudium Antworten auf konditionale Fragen wie: »Wie wäre die Geschichte verlaufen, wenn das Attentat von Sarajevo 1914 nicht stattgefunden hätte« oder »Wie sähe die Welt heute aus, wenn Hitler den Zweiten Weltkrieg gewonnen hätte?«
Eng damit verwandt, aber im Gegensatz dazu rein der Unterhaltung dienend, ist die belletristische Alternativweltgeschichte, wie sie Laurent Binet in Eroberung verfasst. Die Geschichte in solchen Werken spielt in einer Welt, in der die Erzählung ab einem bestimmten Zeitpunkt von der Geschichte in unserer Welt abweicht. Bücher dieses Genres, die der Science-Fiction zugerechnet werden, waren besonders in der englischsprachigen Literatur der Nachkriegszeit beliebt.
Binet selbst hat in seinem bisherigen Werk bereits mehrfach geschichtliche Ausgangslagen verarbeitet: das Wirken des SS-Obergruppenführers und Leiters des Reichssicherheitshauptamtes Reinhard Heydrich sowie das Attentat auf diesen in »HHhH« (2011) sowie das – ebenfalls alternativgeschichtliche – Gedankenspiel, was geschehen wäre, wenn Roland Barthes 1980 nicht verunglückt, sondern ermordet worden wäre, im Roman »Die siebte Sprachfunktion« (2017). Bereits in letzterem dachte sich Binet die Folgen aus, die der Tod des Intellektuellen womöglich gehabt haben könnte, wobei er echte Personen und Ereignisse mit fiktiven Zutaten wie einem gesuchten Manuskript und einer darin enthaltenen siebten Sprachfunktion vermengte.
In Eroberung überträgt der Autor dieses Prinzip auf die große Geschichte, auf Französisch »l’Histoire« mit großgeschriebenem ›h‹, was vor allem für geschichtlich Interessierte, Historikerinnen und Historiker, aber auch Freunde der epischen Gattung eine vergnügliche Lektüre verspricht. Denn im Stil einer groß angelegten Erzählung, die in vier Teile und in viele kürzere Unterkapitel aufgeteilt ist, werden Familiensagen, Kampfszenen, Eroberungen, Verbrüderungen, Fahrten über den Ozean und Kriege sehr plastisch, anschaulich und bildhaft und zudem mit einem verschmitzten Witz berichtet, sodass man sich an ein modernes Epos erinnert fühlt: ein Epos, das bewegen, unterhalten und ein wenig belehren will, indem es vielleicht bei dem ein oder anderen die Begeisterung für Geschichte zu wecken vermag.
Es beginnt damit, dass die Wikinger schon viel früher als in der Realität, nämlich im 11. Jahrhundert, Pferde, Eisen und das Rad zu den Inka nach Südamerika brachten. Als Christoph Kolumbus, der im Grunde nach Indien gelangen wollte, dann Ende des 15. Jahrhunderts in kastilischem Auftrag nach Amerika segelte, zeichnete er in Binets Reiseberichten auf, wie er und seine Männer von den kriegerisch nicht länger unterlegenen Inka in die Enge gedrängt und besiegt wurden. Was den Inka davon blieb, sind die Seekarten der Kolumbier, mit deren Hilfe sie später unter Führung von Atahualpa auf der Flucht vor einem Bürgerkrieg über Kuba nach Lissabon reisen. Denn die Europäer haben den Inka von der Neuen Welt berichtet.
In Spanien und Portugal angekommen schicken sich die Inka an, Europa zu erobern und dabei das frühneuzeitliche Macht-, Feudal- und Kultursystem nachhaltig zu verwandeln. Sie führen in der Landwirtschaft den Anbau von Kartoffeln und Quinoa ein, beenden die Inquisition und treten für Toleranz und Frieden ein. Außerdem ist nach Binets Erzählung die religiöse Sphäre durch die Ankunft der Inka mächtig ins Wanken geraten: Diese verordnen nämlich das heliozentrische Weltbild per Dekret und beschließen das Ende der Jungfrauengeburt sowie der unbefleckten Empfängnis.
In Wittenberg wurden demnach statt Luthers Thesen »95 Sonnenthesen« angeschlagen. Damit begann das geistesgeschichtliche Zeitalter der Inka, die große Gelehrte wie Thomas Morus, Erasmus von Rotterdam, aber auch Thomas Müntzer und Montaigne beeinflussten. Auch die Abenteuer des Cervantes werden ausführlich beschrieben. All diese bekannten Namen haben ihren Auftritt bei Binet, sodass man nicht nur eine Alternativgeschichte präsentiert bekommt, sondern auch ein Who’s who der europäischen Renaissance.
All dies regt dazu an, diese Namen, wenn man sie nicht ohnehin bereits aus anderen Zusammenhängen kennt, wieder einmal nachzuschlagen und sich mit der wahren Geschichte hinter ihnen auseinanderzusetzen, die im Kontrast zu Binets Fassung steht. Denn Renaissance und Frühe Neuzeit waren eine bewegte, krisengeprägte Zeit mit zahlreichen spannenden Entwicklungen in der Wissenschaft, Kultur und Kunst.
Laurent Binets Werk mit all seiner Fabulierlust (die manchmal ein wenig zu sehr über das Ziel hinausschießt) erweckt deshalb vor allem zwei Dinge bei seinen Leserinnen und Lesern: erstens die unmittelbare Lust, sich mit Geschichte, Kultur und Geist Europas in der Renaissance zu befassen, zweitens das wache Bewusstsein dafür, dass außereuropäische Teile der Geschichte häufig ausgeblendet werden und wie Geschichte auch betrachtet werden kann, nämlich als Beziehung zwischen Herrschenden und Beherrschten, zwischen Eroberern und Eroberten, die sich im Nu – durch einen Wimpernschlag des Schicksals – umkehren kann.
Titelangaben
Laurent Binet: Eroberung
Aus dem Französischen von Kristian Wachinger
Reinbek: Rowohlt 2020
384 Seiten. 24.- Euro
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