Roman | Simone Lappert: Der Sprung
Der Sprung mischt eine scheinbar ehrenwerte Kleinstadt gehörig auf und entlarvt brüchige Lebensentwürfe. Mit ihrem zweiten Roman ist der Zürcher Autorin Simone Lappert ein großer Coup gelungen: eine schillernde Milieustudie, ein moderner Episodenroman in bester Short-Cuts-Manier und obendrein eine Nominierung für den Schweizer Buchpreis. Von INGEBORG JAISER
Existentieller, unmittelbarer, ergreifender könnte kaum ein Text beginnen. Eine junge Frau steht nach stundenlangem Randalieren an der äußersten Kante eines Hausdachs, zögert nur kurz, setzt einen Fuß in die Luft – und lässt sich in die Tiefe fallen. Was verleitet sie zu dieser Tat? Liebeskummer? Todessehnsucht? Geistige Verwirrtheit?
Sofort ist man als Leser vom Geschehen gefangen und hält unwillkürlich die Luft an. Doch Der Sprung spult erst mal die Zeit zurück. Der Tag zuvor – »einer dieser ersten warmen Maitage im Jahr, die nach Sommer rochen, an denen alle versuchten, sich ein wenig um ihre Pflichten zu drücken.« Noch scheint die Welt in Ordnung zu sein, in der fiktiven Stadt Thalbach, irgendwo im deutsch-schweizerischen Grenzgebiet. Vorgestellt werden elf Menschen, deren Schicksale und Lebenslinien mehr oder weniger eng mit der der Frau auf dem Hausdach, der rebellischen Gärtnerin und Öko-Aktivistin Manuela Kühne (genannt Manu), verbunden sind. Behutsam wird der Mikrokosmos einer Kleinstadt aufgefächert und gibt anhand ganz individuell gezeichneter Porträts die Sicht auf vielfältige soziale Abgründe frei.
Kaleidoskop der Befindlichkeiten
Da ist Manus Freund Finn, ein unsteter, fernwehkranker Fahrradkurier, der im Ort längst »jeden befahrbaren Zentimeter unter den Reifen gehabt« hat und am liebsten sofort nach Neapel oder Istanbul weiterzöge. Oder die aufstrebende, ehrgeizige Astrid (Manus Halbschwester), die von einem hartnäckigen Mantra getrieben wird: »Bürgermeisterin von Freiburg werden. Und ein Häuschen kaufen auf Usedom. Basta.«
Erschöpft und traumatisiert schleppt sich dagegen der Polizist Felix zu seinen täglichen Einsätzen, längst ernüchtert vom »Sammelsurium von Wut und Ressentiments« dieser Stadt. Durch einen Feldstecher blickt der ehemalige Hutmacher Egon aufs Geschehen. Seine frühere Werkstatt beherbergt nun eine Handy-Klinik, in der es aussieht, als »wären eine Heißleimpistole und ein Bastelladen gleichzeitig explodiert«. Weiterhin vertreten: eine übergewichtige Damenschneiderin, eine gemobbte Schülerin, ein Obdachloser mit patenter Geschäftsidee, die bankrotten Inhaber eines dahindümpelnden Tante-Emma-Ladens.
Aus wechselnden Perspektiven umkreisen die Protagonisten die Ereignisse, in einem unsichtbaren Geflecht miteinander verwoben und episodenhaft beleuchtet. Immer enger zieht sich das Netz aus Irrungen und Wirrungen, Verwicklungen und Verstrickungen zu. Und kulminiert schließlich im Anblick einer suizidgefährdeten jungen Frau auf einem Hausdach. Sensationslüstern sammeln sich die Schaulustigen auf dem Platz davor, »eisessende, filmende, fingerzeigende« Gaffer, die »Spring doch!« skandieren und ihre Handys zücken. Wütend und verwirrt wirft Manu einen Ziegel nach dem anderen in die Tiefe. »Voll die Sozialapokalypse«, wie ein eilends herbeigeradelter Kollege von Finn konstatiert.
Zweifelhaftes Glück
Als scheinbare Gewinner des Spektakels könnten Werner und Theres hervorgehen, die ihr längst insolventes, hochtrabend »Werner’s Grocery« genanntes Einzelhandelsgeschäft in ungeahntem Aufschwung sehen, als sich dort die Menge der Schaulustigen mit Essen und Trinken versorgt. Doch ihr zweifelhaftes Glück ist von kurzer Dauer. Genauso wie die eskapistische Romanze der moppeligen Schneiderin Maren. Oder das folgenschwere Techtelmechtel des testosterongetriebenen Hannes. So hält diese vielschichtige Sozial- und Milieustudie nicht nur ein überraschendes Ende parat, sondern auch etliche unerwartete Wendungen.
Simone Lappert hat nach dem ersten Erfolg ihres 2014 erschienenen Debütromans Wurfschatten die drängenden Erwartungen ans zweite Werk mit Bravour gemeistert. In überbordender Fabulierlust stattet sie ihre Figuren mit außergewöhnlichen Lebensläufen, persönlichen Herausforderungen und latent schwelenden Konflikten aus, ohne zu psychologisieren oder zu dramatisieren. So wechselt dieser klug konzipierte und konstruierte Episodenroman mit jedem Kapitel den Blickwinkel und die Einstellung, verurteilt jedoch nie und erklärt längst nicht alles. Einige Rätsel bleiben zurück. Ganz im Sinne von Manus Wunsch nach Distanz: »Warum müssen mich nur ständig Leute so ansehen, so seltsam. Als wäre meine Biographie ein Dachboden, auf dem man herumwühlen und interessante Sachen finden kann.«
Titelangaben
Simone Lappert: Der Sprung
Zürich: Diogenes 2019
336 Seiten, 22 Euro
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