Der tiefe Blick

Sachbuch | Chris Orwig: Authentische Porträts fotografieren

Ob in diesem Jahr Sonne, Sommer und Urlaub auch wieder dazu reizen, die Kamera mitzunehmen? Chris Orwig nimmt uns mit auf eine spezielle Reise. Der amerikanische Fotograf und Autor mehrerer Bücher behandelt auf 452 Seiten die Porträtfotografie, besser gesagt: Authentische Porträts; sie sind sein spezielles Anliegen. BARBARA WEGMANN hat in dem Buch geblättert.

Portraits fotografieren»Üben Sie Ihren Text nicht vor dem Spiegel«, so wird Schauspieler Dustin Hoffmann im Vorwort des Buches zitiert, die Kunst der Schauspielerei wolle er nämlich nicht auf das Visuelle beschränken, es gehe nicht darum, was man spreche oder wie man aussehe, sondern darum, was man fühle. »Es geht nicht um das sichtbare Äußere, sondern um das, was aus dem Inneren an die Oberfläche steigt.«

Treffender hätte man die 440 Seiten nicht einleiten können, es ist die Suche nach der Persönlichkeit, der Seele, dem Innenleben, der wahren Person, um die es hier geht. Sie festzuhalten, zu dokumentieren und fotografisch zu gestalten, was für eine Kunst!

Was Orwig meint, das präsentiert er mit ausgesprochen vielen und fantastischen Aufnahmen, die schon für sich sprechen: ansprechend, ja sprechend, Kontakt aufnehmend, persönlich, so erscheinen sie, Menschen, die Ehrlichkeit und Authentizität ausstrahlen. Klingt einfach und ist doch ein langer Prozess.

Es ist für den Betrachter mehr ein Bauchgefühl, das ein Bild zu einer fesselnden Fotografie macht oder eben nicht, es ist wie eine eigene Sprache, die man erlernen kann, sinnlich, unter die Haut gehend. Man transportiere mit einem Bild, so der Profi-Fotograf, nicht einen Look, sondern Wesen und Persönlichkeit. Und die Aufnahmen rufen Neugier wach, auf den Menschen, seine Tätigkeit, seine Interessen, seinen Charakter.

Diese Neugier ist aber auch für den Fotografen selbst das wichtigste Arbeitsutensil neben seiner Ausrüstung: Die Kommunikation mit dem Modell, denn: »Sich fotografieren zu lassen ist eine Frage des Vertrauens.« Wie man das schafft und aufbaut, wie man ein gutes Modell findet, wie man ein geeignet scheinendes Modell anspricht, all das beschreibt Orwig anschaulich und sehr verständlich.

Das Buch ist sicher nicht ganz preiswert, aber es lohnt sich. Jedes Kapitel, jede Seite eröffnet, gut aufeinander aufbauend, Detail für Detail rund um die Porträtfotografie und eben die »authentische« insbesondere.

Natürlich spielen fotografische Ausrüstung, Kenntnisse über Kameratechnik, Belichtung, Schärfentiefe oder Brennweite, aber auch Schatten und Lichtquellen, Hintergründe und Umgebung eine wichtige Rolle, aber stets ist es immer wieder Orwigs großes Anliegen, auf die Suche nach der Seele im Gegenüber, dem jeweiligen Modell zu gehen. »Die Welt braucht nicht noch mehr ›perfekte Porträts‹. Die Welt braucht Porträts mit Aussagekraft, Tiefe und Seele. Das Problem ist, wir wissen nicht wirklich, was Seele ist, oder wie wir sie zu packen kriegen.« Da ist es wieder, das Bauchgefühl.

Und letztlich haben all diese Informationen und das, was man aus diesem genialen Buch lernen kann, auch etwas mit uns selbst zu tun, denn letztlich, so Orwig beeinflusse unsere eigene Persönlichkeit alles, was man schaffe, und zwar »mehr als alles andere«.

Titelangaben
Chris Orwig: Authentische Porträts fotografieren
Ein Leitfaden für die Suche nach Wesen, Bedeutung und Tiefe
Heidelberg: dpunkt.verlag 2020
452 Seiten, 39,90 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Voll die Sozialapokalypse

Nächster Artikel

The New Sound Of Ambient

Weitere Artikel der Kategorie »Sachbuch«

Aus dem Leben außergewöhnlicher Frauen

Sachbuch | Dagmar von Gersdorff: Die Schwiegertochter

Dagmar von Gerdorffs neue Biographie der Ottilie von Goethe und das nach fast siebzig Jahren veröffentlichte Roman-Manuskript ›Die Unzertrennlichen‹ von Simone de Beauvoir.
Von DIETER KALTWASSER

Der neofeudale Zugriff

Gesellschaft | Hannes Hofbauer: Die Diktatur des Kapitals Der Begriff Postdemokratie, 2003 von Colin Crouch geprägt, ist fester Bestandteil der kapitalismuskritischen Debatte. Hofbauer greift in seinem Beitrag diesen Begriff auf, und nicht nur die Gegenwart, sondern auch der Rückblick auf die Jahrzehnte seit Kriegsende sieht auf einmal gänzlich anders aus, als uns der mediale Mainstream glauben machen möchte. In den westlichen Gesellschaften werde die Macht durch Oligarchen und Spitzenpolitiker ausgeübt und medial abgesichert. Von WOLF SENFF

Weltverbessern aus dem Stand

Gesellschaft | Susanne Garsoffsky, Britta Sembach: Die ›Alles ist möglich‹-Lüge Das Leben könnte so schön sein, wenn … Das ist der klassische Seufzer derjenigen, die, von plötzlichen Befindlichkeitsstörungen angefallen, für einen Moment die real existierenden Bedingungen des real existierenden Alltags betrachten und vor lauter Schreck beschließen, die Welt zu verbessern. Aus dem Stand. Weil sich sonst nichts ändert. Darauf hat die Welt gewartet. Gut, dass sie einiges gewöhnt ist, die Welt. Von MAGALI HEISSLER

Brenzlige Themen zum Schmökern

Thema | 11 FREUNDE – Magazin für Fußballkultur Ergebnisorientiert gibt’s kurzfristig, das Ergebnis von heute, Moment, muss morgen früh gedruckt sein, die aktuelle Tabelle daneben. Doch Sportberichterstattung ist eigentlich nicht Thema. Jede Tageszeitung hat ihre Sportredaktion, sei’s schrill großbuchstabig, sei’s detailliert und abgewogen, montags ist Fußball Spitzenreiter. Kicker-Sportmagazin sammelt seit Jahrzehnten alle nur greifbaren Resultate, bereitet zweimal wöchentlich alles nur Denkbare statistisch auf, tut sich ganz dicke mit Kaiser Franz, sagt Transfergerüchte weiter etc. pp. Wie schön, dass uns das heute nicht beschäftigt. Von WOLF SENFF

Weißer Fleck! Und weg!

Sachbuch | Eleonore Lappin-Eppel: Ungarisch-Jüdische Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen in Österreich 1944/45 In Österreich, diesem vielfach rätselhaften Land, in dem das Verschweigen, Verdrängen und Vergessen schon seit jeher bis in die schwindelnden Höhen der absoluten Perfektion getrieben wurde, haben die Geschichtsbücher, insbesondere die, welche die Geschehnisse des 20. Jahrhunderts darstellen, immer noch ein paar weiße Flecken, wenngleich sich deren Zahl seit den Tagen von Waldheims Pferd deutlich verringert hat. Von MANFRED WIENINGER