Eine Geschichte des Leidens, Sterbens und Überlebens

Roman | Ronya Othmann: Vierundsiebzig

Wer kennt schon die Jesiden? Kaum jemand. In ihrem ebenso einzig- wie großartigen Roman ›Vierundsiebzig‹ erzählt Ronya Othmann jetzt von der Geschichte dieses Volkes, das zugleich eine eigene Religionsgemeinschaft ist; davon, wie die Angehörigen dieses Volkes (in ihrer Selbstbezeichnung Êzîden) in der Diaspora leben müssen. Der Roman erzählt vom »Ferman«, wie die Jesiden die an ihnen begangenen Pogrome bezeichnen. 73 Fermane hatte es bis 2014 bereits gegeben. Dann kam Nummer 74. Fanatiker des »Islamischen Staats« (IS) überfielen am 3. August das jesidische Dorf Kotscho im nordirakischen Sindschar-Gebiet. Die Vereinten Nationen stuften das Massenverbrechen als Genozid ein. Im Januar 2023 tat das auch der Deutsche Bundestag. Doch nicht nur darum sind Ronya Othmanns großem Roman zahlreiche Leser zu wünschen – sondern auch, weil für die Autorin der Ferman weit mehr ist als ein politisch-historisches Verbrechen. Denn Ronya Othmann stammt selbst aus einer jesidischen Familie. Von DIETER KALTWASSER

Eine karge Wüstenlandschaft mit Felsen und DünenDie Geschichte der Verfolgung des jesidischen Volkes ist lang. Eine Chronik führt vom 13. Jahrhundert bis zum Jahr 1935 fast 200 Feldzüge und Pogrome auf. Sie zeigt die »Unermesslichkeit der Unterdrückung und der Massenmorde an den Jesiden«, wie es in dem 2021 erschienenen Dokumentationsband »Ferman 74« heißt, den Stefan Gatzhammer, Johann Hafner und Dawood Khatari herausgegeben haben. Und weiter: »Fast alle Fermane zeigten das gleiche Muster: massenhafte Tötungen der Männer, Versklavung der Kinder, Verkauf der Mädchen und Frauen als Kriegsbeute und Sexsklavinnen, Beschlagnahmung ihres Eigentums sowie Zerstörung ihrer Dörfer und heiligen Stätten.«

Die systematische Verfolgung und Ermordung der Jesiden war mit dem Zusammenbruch des Osmanischen Reichs nicht zu Ende. Die Türkei, Irak und Syrien lehnten die Eingliederung der Jesiden in die neu geschaffenen Nationalstaaten ab und setzten die Politik der Unterdrückung und Verfolgung fort.

Als die Kämpfer der Terrormiliz IS in die jesidischen Dörfer im Norden des Irak einfielen, hatte Othmann gerade ihren ersten Roman »Die Sommer« zu schreiben begonnen: »nachdem meine Großmutter und auch mein Onkel und seine Frau und die Kinder geflohen sind, kurz nach dem Genozid«.

Im August des Jahres beginnt in der irakischen Region Shingal der Völkermord an den Jesiden: Weil sie sich der Zwangsbekehrung zum Islam verweigern, werden sie getötet. Für die »Gotteskrieger« des »Islamischen Staates« ist das Töten von Ungläubigen religionsgesetzlich »halal«, also erlaubt. Ganze Dorfgemeinschaften werden ausgelöscht, viele Mädchen und Frauen verschleppt. In Rakka und Mossul gibt es Sklavenmärkte, auf denen sie verkauft werden.

Ronya Othmann, Tochter einer deutschen Mutter und eines säkularen jesidischen Vaters, der 1980 als staatenloser Kurde aus Nordostsyrien über die Türkei nach Deutschland floh, wurde 1993 in München geboren und lebt jetzt in Leipzig. Mit »Vierundsiebzig« stand sie völlig zu Recht in der sechs Romane umfassenden Endauswahl zum Deutschen Buchpreises 2024, der zum Auftakt der Frankfurter Buchmesse vergeben wurde.

»Vor 2014 kennt man die Jesiden in Deutschland nicht,« schreibt die Autorin in ihrem Buch. »2014 wissen die Leute, dass es Jesiden gibt. In den Schlagzeilen aller Zeitungen ist von uns zu lesen. Berge, Staub und Menschen, die um ihr Leben rennen. Titelbilder. Tagesschau. Wir werden ermordet.« Die durch den IS unmittelbar vom Verschwinden bedrohte dörfliche Welt ihrer Familie war für Othmann ein Beweggrund, eine Bestandsaufnahme zu machen. Sie wollte es schriftlich festhalten, was sie wusste, woran sie sich erinnerte und was sie in Erfahrung bringen konnte. Sie schreibt: »Fast 6.000 jesidische Frauen und Mädchen, lese ich, waren in IS-Gefangenschaft. Nahezu jede wurde vergewaltigt. Bis heute wurde nur die Hälfte aus der Gefangenschaft befreit oder konnte fliehen.«

Ein paar Jahre danach reiste Othmann selbst in den Nordirak und sprach mit Überlebenden und mit ihren Familienmitgliedern, die mit ihrem Auto fliehen konnten und sehen mussten, wie der IS ihre Kunstschätze und Heiligtümer zerstörte.

Die Autorin begann mit ihrer Arbeit an »Vierundsiebzig« im Juni 2018. Als Kind war sie nie im Nordirak gewesen, sondern immer nur im Dorf ihrer Großeltern, in Syrien. Auch vier Jahre nach dem Massenverbrechen standen alle Menschen dort noch unter Schock. Was Orthmann hörte und sah, prägte sich ihr ein. Die Zukunft der Jesiden in ihrem Herkunftsgebiet sei ungewiss. Später habe sie, so Othmann, »an den Ereignissen entlanggeschrieben.« In der nordirakischen Region Shingal, besucht sie die Orte des Völkermords (gemeinsam mit ihrem Vater, für den alle Religionen irrational sind). Sie fährt durch die Dörfer der ehemaligen IS-Anhänger, die unversehrt neben den zerstörten Orten der Jesiden stehen. Überlebende berichten, wie sich viele arabische Nachbarn an den Morden beteiligten.

Othmann hat für ihr Buch mit Betroffenen und ihren Angehörigen, mit Freunden, Freundinnen und Verwandten gesprochen. Sie geht in ihrem Roman auch der Beziehung zwischen Vater und Tochter nach – und der Frage nach der jesidischen Identität. Empfindet sie selbst sich als Jesidin: »Ich bin es, und ich bin es nicht.«

Entstanden ist kein journalistischer Bericht, keine Chronologie, sondern ein »dokumentarischer Roman«, eine Mischung aus Bericht, Essay, Gesprächen und Erzählung. Stattdessen führt die Autorin eine Vielzahl von Recherchen durch, die sie unter anderem in Gerichtssäle führt, an Checkpoints schiitischer und anderer Milizen sowie zu ihrer eigenen Verwandtschaft in Syrien. Sie erzählt in ihrem Buch auch vom Völkermord an den Armeniern, von den Massenmorden Saddam Husseins, von der Folter in türkischen Gefängnissen und der nicht endenden Not der staatenlosen Kurden.
Die grausamen Verbrechen und Massaker führen die Autorin oft genug bis an die Grenzen des Sag- und Schreibbaren und zur Sprachlosigkeit; und dies niederzuschreiben, zeichnet gerade den einzigartigen Ton dieses Romans aus: »Ich schreibe: Ich habe gesehen. Das Ich ist ein Zeuge. Es spricht, und doch hat es keine Sprache.«

An anderer Stelle heißt es angesichts des Grauens: »Ich will mich aus dem Text streichen, nur noch Auge und Ohr sein.« Über die Arbeit an ihrem Roman schreibt Othmann: »Ich nehme mir vor, die Stücke zusammenzusetzen. Diesen Satz zu beenden, das falsche Wort durch ein weniger falsches zu ersetzen. Schreiben ist vielleicht Aufbauarbeit. Und vielleicht ist auch das Illusion.«

| DIETER KALTWASSER

Titelangaben
Ronya Othmann: Vierundsiebzig
Hamburg: Rowohlt Verlag 2024
512 Seiten, 26 Euro

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Ankommen

Nächster Artikel

Der passende Held für jeden

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Sonderkommission »Käfig«

Roman | Simone Buchholz: Beton Rouge Chastity Riley, Simone Buchholz‘ unangepasste Hamburger Staatsanwältin, ermittelt bereits zum siebten Mal. In ›Beton Rouge‹ landen Manager nackt in Käfigen vor den Türen eines Hamburger Verlagshauses. Ein Mädchen wird totgefahren und in Rileys Freundeskreis, ihrem großen Rückhalt in der Welt, geht es auch nicht mehr ganz so friedlich zu. Als die Spur dann noch in ein bayerisches Elite-Internat führt und Chastity an ihrem neuen Partner Stepanovic mehr zu finden scheint, als sie eigentlich gesucht hat, wird die Sache langsam unübersichtlich. Von DIETMAR JACOBSEN

Zwei feine Herren unter sich

Roman | Martin Suter: Allmen und Herr Weynfeldt

Zum siebten Mal seit 2011 lässt Martin Suter in Allmen und Herr Weynfeldt seinen kultivierten Kunstdetektiv Johann Friedrich von Allmen nach verschwundenen Werken suchen. Diesmal ist es ein umstrittener Picasso, der über Nacht aus dem Besitz des renommierten Kenners Adrian Weynfeldt verschwunden ist. Und ob das Bild mit dem schönen Titel Baigneuses au ballon 4 nun ein echter Picasso ist oder nicht – irgendjemand scheint zu glauben, damit das große Geschäft machen zu können. Von DIETMAR JACOBSEN

Sie ist nicht von dieser Welt

Roman | Jack London: Martin Eden …, die Liebe zu der bourgeoisen Ruth, die den Proletarier Martin Eden am Schreiben hält. Auf seinem Weg zum Ruhm muss der strebsame Jungautor stets Rückschläge hinnehmen und steht letztlich als tragischer Held da, der als Individualist am Sozialismus zu scheitern droht. Zum 100. Todestag erschien die Neuübersetzung von Jack Londons Martin Eden, der als Schlüsselroman zum Leben des Schriftstellers gilt. MONA KAMPE sucht nach den Parallelen in beiden Welten.

Nur auf einen Caffè und dann auf und davon

Roman | Mike Markart: Ich halte mir diesen Brief wie einen Hund

Nach Calcata (2009) und Der dunkle Bellaviri (2013) erscheint nun der dritte autobiografisch gefärbte Roman von Mike Markart: ›Ich halte mir diesen Brief wie einen Hund‹. Mit diesem neuesten Band mit einem merkwürdigen Titel ist die Trilogie abgeschlossen. Wie auch die beiden ersten Romane erzählt sie uns von einer bruchstückhaften, zerlegten Welt. Von HUBERT HOLZMANN

Allein unter Quallen

Roman | Marie Gamillscheg: Aufruhr der Meerestiere

Mit Aufruhr der Meerestiere ist der 1992 in Graz geborenen und inzwischen in Berlin lebenden Autorin Marie Gamillscheg ein beachtenswerter Nachfolgeroman zu ihrem mehrfach ausgezeichneten Debüt Alles was glänzt (2018) gelungen. Durch ihren fluiden Charakter vereint diese Geschichte zahlreiche Elemente eines Heimat-, Wissenschafts- und Familien-Romans, leicht und übergangslos. Als ob am Ende die Worte wie Wasser durch die Finger zerrinnen würden. Von INGEBORG JAISER