//

Kultur

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Kultur

Nein, Wette läßt sich diesmal entschuldigen, sagte Annika.

Ob er Wichtigeres vorhat, fragte Farb.

Er hat eine mail geschickt, er sei mit Setzweyn eine Woche bei der Karttinger zu Besuch, sie habe sie in die Vendée eingeladen.

Tourismus?

Die Karttingers haben dort einen Zweitwohnsitz, sagte Annika.

Farb tat sich eine Pflaumenschnitte auf,

Tilman reichte ihm eine Löffel Schlagsahne.

Wette und Setzweyn nehmen das gern wahr, sagte Annika, sie werden sich einige Tage in Paris aufhalten und Notre Dame besuchen, die Kathedrale wird nach fünf Jahren Restaurierung neu eröffnet, sie ist tief verwurzelt in der französischen Nationalität, ein bedeutender Schauplatz der französischen Geschichte, im Dezember 1804 ließ sich Napoleon hier zum Kaiser krönen, und 1944 feierte Frankreich in der Kathedrale die Befreiung des Landes von der Nazi-Besatzung.

Notre Dame ist wiederhergestellt, fragte Farb, und wird mit einem pompösen Fest wieder eröffnet?

Sie machen viel Gewese um diese Feier fünf Jahre nach dem Brand des Dachstuhls, die Schäden waren erheblich gewesen, der Dachstuhl, der Spitzturm und ein Teil des oberen Gewölbes wurden zerstört. aus der Asche ist nun die Kathedrale quasi neu auferstanden, und man rätselt, wer alles dieses Fest für seine Zwecke nutzen wird.

Jeder beteiligt sich, so gut er kann, sagte Farb: die Kirche, die Tourismus-Industrie, die Politik, Macron hält eine Ansprache, sogar der Amerikaner ist angekündigt, Überraschung! MAGA!, daß man neugierig wird, diese monströsen Festivitäten geraten allerdings oft um einige Nummern zu groß, man veranstaltet ein Volksfest, der Aufwand wirkt gezwungen, man möchte eine ruhmreiche Vergangenheit beschwören und neigt dazu, sich selbst zu feiern, die Dinge sind brüchig geworden, hohl, sie deuten eher auf den Zerfall der bürgerlichen, westlichen Kultur.

Schwierig, sagte Tilman, denn die Rekonstruktion der Kathedrale ließe sich durchaus auch ernsthaft als ein Symbol ansehen, als den Wiederaufbau eines nationalen Kulturguts, das den Geist der Gemeinschaft widerspiegelt – angesichts der aktuellen Regierungskrise in Frankreich ein positives Signal.

Annika blätterte in ihrem Reisemagazin.

Tilman warf einen sehnsüchtigen Blick nach dem Gohliser Schlößchen.

Die Kulturkämpfe, sagte Farb, begännen unübersichtlich zu werden, es falle schwer, sie einzuordnen, sie suchten politische Orientierung.

Farb aß ein Stück Pflaumenkuchen.

Tilman griff zu einem Marmorkeks.

Die Situation sei unübersichtlich, sagte Annika, wohin man auch blicke, das Geschehen sei verwirrend, einst gesicherte Verhältnisse lösten sich auf, und neue Strukturen lägen außer Reichweite.

Sie legte ihr Reisemagazin beiseite.

Nein, sagte Farb, er wisse nicht, was sich Wette und Setzweyn von einem Besuch der Kathedrale versprächen, Frankreich befinde sich inmitten einer tiefen politischen Krise, Macron instrumentalisiere die Eröffnung, und niemand wisse, wie es politisch weitergehe, Europa sei geschwächt und drohe gespalten zu werden.

Das lasse sich aus der Situation von Notre Dame ablesen, zweifelsfrei, sagte Tilman, die Kulturkämpfe würden äußerst erbittert geführt, und möglich sei auch, sie als ein frühes Symptom der Verteilungskämpfe zu deuten.

Schwierig, sagte Farb.

Annika schwieg.

| WOLF SENFF

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Alchemie: Die Suche nach Gold und spiritueller Weisheit

Nächster Artikel

Wärme für die Seele

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Blind

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Blind

Wie Teiresias sich zu leben vorgestellt hätte, wissen wir nicht, er hatte ja keine Wahl, so war das, genau so, ihm wurden enge Grenzen gezogen und harte Pflichten auferlegt, die, so darf zurecht vermutet werden, sich im Endeffekt jedesmal als beschwerlich erwiesen, als ein undankbares Geschäft, man kennt das, er enthüllte Wahrheiten, die den Lebenswandel vieler Mitmenschen als Lüge entlarvten, als einen törichten Selbstbetrug um so mancher bequemen Gewohnheit willen.

Meer

Lite Ratur | Wolf Senff: Meer Das Meer ist tief, besonders zur Mitte hin, sagt man, nur wer wüsste zu sagen, wo sich die Mitte des Meeres findet oder ob es überhaupt eine hat. Ich könnte im Wasser nicht leben, das Meer ist mir fremd, nein ich habe in meinem Leben nie geangelt, auch Freunde von mir angeln nicht, ich kenne das Angeln vom Hörensagen.

Farb

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Farb

Die Tage vergingen, als wäre nichts geschehen, als wäre Farb noch präsent, als wäre alles wie gehabt, nach dem Frühstück bevölkerte sich der mit einer mannshohen Plane umsäumte Strandabschnitt, die Dänen trafen wie üblich gegen halb zehn von ›Cesar's Palace‹ ein und besetzten ihre Liegen neben dem massiven Felsblock.

Sut erzählt (3)

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Sut erzählt (3)

Die Makah, jene südliche indigene Gemeinschaft, von der er erzähle, sagte Sut, lebten am Kap Flattery auf der Olympic-Halbinsel südlich der Juan de Fuca-Straße.

Nicht mehr in Kanada, fragte Harmat.

Das Kap Flattery sei Territorium der USA, sagte Mahorner.

Eldin legte einen Scheit Holz ins Feuer.

Crockeye rückte näher an die Flammen.

Sanctus schlug Akkorde auf seiner Gitarre an.

Beacon to the world

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Beacon to the world

Mit stolzgeschwellter Brust nennt er seine Gegenwart Neuzeit, sich selbst kühn einen Homo sapiens und nimmt dennoch die vernichtenden Abläufe nicht wahr.

Wie ist das möglich, Gramner?

Der Mensch kann die Augen schließen, rein physisch, die Lider herunterklappen, Augen zu, und allem Anschein nach ist sein Geist ähnlich eingerichtet, seine Wahrnehmung kann hellwach, doch kann auch auf Null geschaltet sein.

Und wovon soll das abhängig sein?

Das ergibt Sinn, oder? Vor einem Anblick, der ihn quält, schließt er unwillkürlich die Augen, und auch seine Wahrnehmung sperrt sich gegen bestimmte Dinge, er tabuisiert sie.

Er will etwas nicht wahrhaben?

Er neigt dazu, manche Dinge nicht wahrzuhaben, Ausguck, zum Beispiel nimmt er nur in Ansätzen wahr, daß der Planet leidet, die Lebensgrundlagen gehen verloren, er verzeichnet die Symptome, er schweigt sich aus über Ursachen.

Er tut, was er kann.