Ein Roman von Ross Thomas (1926 – 1995) kann eigentlich nicht dick genug sein. Wer diese Meinung teilt, wird an dem vorletzten Band der verdienstvollen Ross-Thomas-Werkausgabe des Berliner Alexander Verlages seine helle Freude haben. Denn in der vollständigen deutschen Neuübersetzung von Gisbert und Julian Haefs ist Thomas‘ im Original mit der von Mark Twain entliehenen Titelzeile The Fools in Town Are on Our Side überschriebener Roman aus dem Jahre 1970 sage und schreibe 580 Seiten lang. Dass die erste deutsche Ausgabe unter dem Titel Unsere Stadt muss sauber werden (Ullstein 1972) gerade einmal 144 Seiten zählte, sagt wohl alles über den bisherigen Umgang mit einem der Top-Thrillerautoren des letzten Jahrhunderts aus. Gottseidank ist die üble Kürzerei, die vom unverwechselbaren Stil des Autors nicht viel übrig ließ, nun vorbei. Endlich kann auch Ross Thomas‘ sechster Roman, der zu keiner seiner Reihen zählt, von seinen heutigen Leserinnen und Lesern so rezipiert werden, wie er vor über fünfzig Jahren geschrieben wurde. Und natürlich ist das erneut ein großartiges Leseerlebnis. Von DIETMAR JACOBSEN
Gerade erst aus einem Gefängnis in Hongkong entlassen, wird der Ex-Spion Lucifer Dye nach seiner Rückkehr in die USA von dem undurchsichtigen Victor Orcutt kontaktiert, der sein Geld damit verdient, etwas gegen die »zivile Zersetzung« von amerikanischen Städten nach dem Motto »Ehe es besser wird, muss es erst einmal schlechter werden« zu tun. Gemeinsam mit dem Ex-Polizeichef Homer Necessary und der vormaligen Prostituierten Carol Thackerty – herrliche Namen hat sich Thomas für sein zentrales Personal da ausgedacht – soll Dye unter Orcutts Leitung die sich im Aufwind befindende texanische Stadt Swankerton korrumpieren, indem er sich das Vertrauen der dort um lukrative Pfründe Kämpfenden erschleicht und die eine Seite dazu bringt, ihren Einsatz so zu übertreiben, »dass sogar die Zuhälter für Reformen stimmen«.
Wie korrumpiert man eine ganze Stadt?
Viel Zeit bleibt nicht, denn eine lokale Wahl steht bevor. Und bei der sollen die Richtigen gewinnen, sprich: die, die Orcutts kleines Team fürstlich für seinen nicht ganz ungefährlichen und im Laufe des Romans tatsächlich eine ganze Reihe von Opfern fordernden Einsatz zu belohnen versprochen haben. Und das sind just jene, die bisher bereits im großen Stil hier abgesahnt haben und ihre reichen Pfründe nun von zugewanderten Mobstern bedroht sehen.
Denn der Stadt steht ein Boom bevor, weil die US-Armee die Errichtung einer Luftwaffen-Basis in unmittelbarer Nähe von Swankerton plant. Und weil sich das im Handumdrehen herumgesprochen hat, wollen nicht nur die alteingesessenen Politiker und Geschäftsleute von der Situation profitieren, sondern auch andere. Denn wenn tatsächlich mit dem Zuzug von Tausenden von Soldaten, Ingenieuren und Arbeitern mitsamt ihren Familien zu rechnen ist, werden all diese Neuankömmlinge mit Sicherheit gutes Geld in die Gemeindekassen spülen. Und auch als künftige Wählerinnen und Wähler stellen sie ein für die weitere Entwicklung der lokalen Politik nicht unwichtiges Potential dar.
Ein Boom zieht nicht nur Engel an
Also gilt es, schnell jene Angriffspunkte herauszufinden, an denen der Feind verletzlich ist. Und wenn es dabei von Nutzen scheint, ein paar Protagonisten aus den eigenen Reihen zu opfern, damit die ganze Aktion nicht von vornherein zu einseitig erscheint – umso besser! Denn letzten Endes wollen Orcutt und die Seinen selbst profitieren. Da ist es fast unerheblich – und wird im Laufe des Romans auch immer undurchsichtiger –, auf welcher Seite das kleine Häuflein von Troubleshootern eigentlich wirklich steht.
Die Narren sind auf unserer Seite glänzt mit geschliffenen Dialogen, einem bis in die kleinsten Nebenrollen wohl durchdachten Figurenensemble, dessen einzelnen Mitgliedern die geniale Fähigkeit des Autors, eine Person mit nur wenigen Sätzen charakterisieren zu können, Profil verleiht, sowie einem zentralen Protagonisten, dessen Vorgeschichte Ross Thomas bis in die 1930er Jahre zurückverfolgt. Wer vor Kurzem den mit dem 40. Deutschen Krimipreis international ausgezeichneten Roman Fünf Winter von James Kestrel gelesen hat, der wird sich sicher, wenn er nun jene Kapitel liest, in denen der 1933 geborene Lucifer Dye seine harte Kindheit und Jugend in Südostasien rekapituliert, an diesen ganz anderen Roman einer Mörderjagd erinnert fühlen. Und feststellen können: Obwohl zwischen den beiden Büchern mehr als ein halbes Jahrhundert liegt, wirkt der ältere weder literarisch noch von seinen Problemstellungen her überholt.
Ein Roman von hoher Aktualität
Man muss Ende 2024, nach der Wahl eines neuen amerikanischen Präsidenten, der so neu gar nicht ist, und der Abdankung eines deutschen Regierungsbündnisses, in dem es von Beginn an knirschte, nicht lange nachdenken, um die Brisanz dieses mehr als fünfzig Jahre alten Romans für unsere Zeit zu erkennen. Ohne Ränkespiele – auch Intrigen können im Übrigen Spaß machen, man muss nur auf der richtigen Seite stehen – im Hintergrund scheint Politik offenbar noch nie ausgekommen zu sein. Dazu kommt die Tatsache, dass Ross Thomas, bevor er mit 40 Jahren unter die Schriftsteller ging, um einer ihrer besten zu werden, als Journalist und Politikberater genau jene Luft schnupperte, die er anschließend durch seine Bücher wehen ließ. Das hat nicht unbeträchtlich dazu beigetragen, dass seine Plots so authentisch und entlarvend wirkten. Zu seiner Zeit, aber auch heute noch.
Titelangaben
Ross Thomas: Die Narren sind auf unserer Seite
Aus dem amerikanischen Englisch von Gisbert Haefs und Julian Haefs
Berlin: Alexander Verlag 2024
580 Seiten. 20 Euro
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