»Fremd bin ich eingezogen, Fremd zieh‘ ich wieder aus« heißt es im Text von Wilhelm Müller zu Franz Schuberts Winterreise. Um dieses Gefühl der Fremdheit kreist auch der autofiktionale Debütroman der 35-jährigen Autorin Dorothee Riese, die vier Jahre alt war, als ihre Eltern mit ihr von Deutschland nach Rumänien auswanderten. Später hat sie Slawistik und Geschichte Mittel- und Osteuropas studiert und ist seit Januar Koordinatorin des Leibniz-Forschungsnetzwerks östliches Europa. Am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig hatte sie mit Jenny Erpenbeck, Josef Haslinger und Hans-Ulrich Treichel ausgezeichnete Lehrer. Von PETER MOHR.
Aus der Perspektive der heranwachsenden Judith, die der Autorin nicht unähnlich ist, lässt uns Dorothee Riese an einer unkonventionellen Biografie teilhaben. Judiths Eltern brechen Anfang der 1990er Jahre ihre Zelte in Deutschland ab und haben ein Leben als Aussteiger im Sinn, wollen dem Kapitalismus den Rücken kehren und suchen im postkommunistischen Rumänien ihr Glück.
Während es tausende von Menschen in dieser Zeit aus Siebenbürgen und dem Banat nach Deutschland zieht, geht Judiths Familie den umgekehrten Weg – aus einem deutschen Luftkurort namens Bad Rosau nach Sarmizegetusa, das die einstigen sächsischen Bewohner Waldlichen nannten. Doch dieser idyllisch anmutende Name täuscht. Das im Umbruch befindliche Rumänien ist ein bitter armes Land, das noch immer unter den Folgen des Ceaucescu-Regimes leidet.
Viele Dorfbewohner haben ihre Jobs und ihr Einkommen verloren, die Angst vor sozialem Abstieg, vor Ächtung und dem Verlust sozialer Kontakte ist ein ständiger Alltagsbegleiter. Schnell lernt die aufgeweckte Judith die Sprache im Dorf, spürt aber auch rasch, wie sich ethnische Unterschiede wie unüberwindbare Hürden, wie nicht zu kittende Risse durch die kleine Dorfgemeinschaft ziehen. Die deutschen »Zuwanderer« werden mit Argusaugen beobachtet und werden Zeugen eines offenen Rassismus, wenn es etwa über den Pfarrer heißt: »Und auch er redete gerne über die Roma. Er erzählte, dass sie es wären, die stahlen, dass sie zu viele Kinder bekämen, und dass sie vor allem die Dörfer und Städte der Gegend zerstören würden.«
Mit der Protagonistin Judith sieht man diese »neue Welt« zunächst aus Kinderaugen und erlebt, wie jene Kinder in Rollen hineingezwängt werden, die ihnen von den Erwachsenen vorgegeben und durch ihre soziale Provenienz bestimmt sind.
Judith wechselt später auf eine weiterführende Schule und bleibt stets eine Außenseiterin »mit einem Bücherstapel im Rucksack.« Der Neid auf die Privilegierten begleitet sie auf Schritt und Tritt. Den rumänischen Nachbarn fehlt jede Zukunftsperspektive, anders als die Siebenbürger Sachsen können sie nicht ins reiche Deutschland auswandern.
Eine der beeindruckendsten Sequenzen dieses Romans handelt von einem Disput der Eltern. Die Mutter hatte einer Nachbarin das letzte Stück Brot geschenkt – sehr zum Leidwesen von Judiths Vater. »Im Dorfladen, so sagt er, gebe es nun erst in drei Tagen wieder frisches Brot. Die Mutter entgegnet ihm, nicht für das Brot seien sie hierher gekommen, sondern für die Stille.«
Der Roman endet damit, dass sich die im Internat gemobbte Protagonistin per Anhalter Richtung Karpaten auf den Weg in eine völlig ungewisse Zukunft macht. »Wir sind hier für die Stille« erzählt von der vergeblichen Suche nach Glück und der eigenen Identität. Zurück bleibt die von Dorothee Riese exzellent heraus gearbeitete Omnipräsenz der Fremdheit. Ein beeindruckender literarischer Erstling.
Titelangaben
Dorothee Riese: Wir sind hier für die Stille
Berlin, München: Berlin Verlag 2024
231 Seiten. 22 Euro
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