Roman | Gianna Molinari: Hier ist noch alles möglich
Eine ehemalige Bibliothekarin sucht eine neue Identität als Nachtwächterin. Dennoch wird sie weiterhin vom Aufspüren und Recherchieren, Sammeln und Archivieren verfolgt. Das kann zu schrecklichen Entdeckungen führen. Hier ist noch alles möglich prophezeit die Schweizer Schriftstellerin Gianna Molinari in ihrem kürzlich erschienenen Debüt-Roman. Von INGEBORG JAISER
Wer den dreitägigen Lesemarathon während der Klagenfurter Tage der deutschsprachigen Literatur mitverfolgt, wird es bestätigen können: in der Fülle der Eindrücke hinterlässt nicht jeder Text bleibende Erinnerungen. Doch manche Geschichten kommen mit solcher Wucht und Präsenz daher, dass man sie so schnell nicht vergessen kann.
Gianna Molinaris Loses Mappe aus der letztjährigen Runde ist so eine: erschreckend, präzise, schonungslos. Nun ist der zugehörige Roman unter dem Titel Hier ist noch alles möglich erschienen, nach insgesamt sechsjähriger Arbeit. Und die Lektüre lässt vermuten, dass diese lange Zeit nicht nur zum Schreiben erforderlich war, sondern vor allem auch zum Streichen, Komprimieren.
Böser Wolf
Um was geht es? Eine junge Frau wird als Nachtwächterin in einer Verpackungsfabrik eingestellt, die kurz vor der Schließung oder Abwicklung steht. Auf dem fast menschenleeren Areal in der Nähe eines Flughafens gibt es nicht mehr viel zu bewachen. Die meisten Mitarbeiter haben gekündigt, die Gebäude verrotten – doch der schon etwas müßiggängerische Kantinenkoch glaubt, einen streunenden Wolf entdeckt zu haben, dem es nun aufzulauern gilt. Die früher als Bibliothekarin tätige Frau bezieht einen spartanisch eingerichteten, kargen Raum über den Produktionshallen.
»Warum bist du eigentlich in die Fabrik gekommen«, fragt ihr Kollege Clemens, mit dem sie die Wechselschichten teilt. »Du könntest doch anderes tun. Studieren, reisen.« Ihre lapidare Antwort, angesichts des schon halb verwaisten, unwirtlichen Ortes: »Hier ist noch alles möglich.« Sie, die hier buchstäblich als unbeschriebenes Blatt antritt, schafft sich eine neue Identität, ein neues Umfeld, das sie beständig durch Fotografien, Skizzen und ergänzende handschriftliche Einträge in ein Universal-General-Lexikon dokumentiert.
Archäologie und Archive
Hier ist noch alles möglich, auch ganz Unglaubliches. Zu einem schlichten Holzkreuz in der Nähe kann der Kollege Lose eine schier unfassbare Geschichte erzählen. Er selbst, ein ehemaliger Wachmann und Hobbyjäger, glaubte einst im morgendlichen Dämmerlicht, vom Hochsitz aus, etwas vom Himmel fallen zu sehen. War das ein Metallstück, ein Schatten, eine Vision?
Später hat man am Boden die Leiche eines dunkelhäutigen Mannes gefunden, lediglich bekleidet mit einer Jeans und einem T-Shirt. Es muss ein afrikanischer Flüchtling gewesen sein, der offensichtlich versucht hat, sich in einem Flugzeugfahrwerk zu verstecken. Er ist wohl erfroren und erst beim Ausklappen des Fahrwerks herunterstürzt. Geschätzte Fallhöhe: 800 Meter. Seine Identität konnte nie bestimmt werden. Wer war der Mann, woher kam er, was hat ihn zur Flucht getrieben?
Als Lose die Fabrik verlässt, um eine neue Stelle am Flughafen anzutreten, übergibt er der jungen Frau eine Mappe mit der Aufschrift »M.d.v.H.f.«. Mann, der vom Himmel fiel. In der Mappe befinden sich gesammelte, archivierte Zeitungsartikel und Bilder, manche mit Notizen und Markierungen versehen. Lose erklärt, er »sei sich oft wie ein Archäologe vorgekommen, der versucht, die Bruchstücke zu einem Ganzen zusammenzufügen«.
Karges Kammerspiel
Gianna Molinaris Debüt-Roman – mit dessen Textauszug Loses Mappe sie übrigens 2017 den begehrten 3Sat-Preis beim Klagenfurter Bachmannwettbewerb gewonnen hat – ist eine bestürzende Studie des (Nicht-)Sehens und (Weg-)Schauens, die aufrührerische Fragestellung nach Identität und Ausgrenzung. Was nicht jeder Leser weiß: der beschriebene Fall hat sich tatsächlich 2010 in der Gemeinde Weisslingen, in der Nähe von Zürich, ereignet, ging damals durch die Schweizer Tagespresse und wurde vom Journalisten Christoph B. Keller zu einer Radiosendung verarbeitet.
Doch Gianna Molinari erzählt die Geschehnisse nicht einfach nach. Obwohl ihr Roman durch eingearbeitete Textschnipsel, Fotografien und Zeichnungen die Anmutung einer Montage erhält, ist er vor allem ein reduziertes, minimalistisches Kammerspiel, dessen nüchterne Kargheit verblüfft. Auch ohne offensichtlichen moralischen Anspruch sind die großen Fragen des Lebens stets präsent: wo kommen wir her, wo wollen wir hin? Inzwischen steht Hier ist noch alles möglich auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis 2018 – mit den allerbesten Chancen!
Titelangaben
Gianna Molinari: Hier ist noch alles möglich
Berlin: Aufbau Verlag 2018
192 Seiten, 18 Euro
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| Leseprobe
| Ingeborg Jaiser über Gianna Molinari beim Bachmann-Wettbewerb in TITEL kulturmagazin