Das ungelüftete Geheimnis

Roman | Maxim Biller: Sechs Koffer

Maxim Biller pflegt seit fast drei Jahrzehnten sein Image als »enfant terrible« des deutschsprachigen Literaturbetriebs und inszeniert sich selbst gern als nonkonformistischer Schwimmer gegen den Strom des Zeitgeistes. Zunächst mit seiner Kolumne ›100 Zeilen Hass‹, später mit seinem Roman ›Esra‹ (2003), der wegen Verletzung von Persönlichkeitsrechten die Justiz beschäftigte und dann in jüngerer Vergangenheit auch als wütender Dauerpolemiker in der zweiten Generation des ›Literarischen Quartetts‹ im ZDF. Jetzt ist sein neuster Roman ›Sechs Koffer‹ bei Kiepenheuer & Witsch erschienen. Von PETER MOHR

Maxim Biller: Sechs Koffer»Ich habe, wenn ich anfange zu schreiben, nie eine Ahnung, wie lang ein Buch wird«, hatte Maxim Biller einmal in einem ›ZEIT‹-Interview erklärt. Und die Leser bekamen diese Zügellosigkeit vor zwei Jahren auf rund 900 Seiten des Biller-Wälzers ›Biografie‹ zu spüren. Ein gigantisches Monstrum aus Familiengeschichte(n) und geradezu obsessiver Selbstentblößung.

Thematisch knüpft der 58-jährige Maxim Biller am opulenten Vorgängerwerk an. Nun erzählt er (angelehnt an den Titel) aus sechs unterschiedlichen Perspektiven die Geschichte einer russisch-jüdisch-tschechischen Familie. Das Gros der Handlung vermittelt uns ein im Laufe der Handlung vom Kind zum jungen Schriftsteller heranwachsender Spross, der – wie Biller – 1960 in Prag zur Welt gekommen ist.

»Alles, was der Erzähler des Romans, von dem man denken könnte, er sei ähnlich wie ich, für wahr hielt, verhält sich ganz anders, mit Implikationen für die ganze Geschichte von Europa und den Fall der Mauer«, hatte Biller vor zwei Jahren über sein gigantisches Buch ›Biografie‹ erklärt und damit auch eine interpretatorische Hilfe für seinen neuen Roman geliefert.

Über allem kreist die Frage, wer den Großvater, einen umtriebigen Händler von illegalen Westwaren, verraten und damit an den KGB ausgeliefert hat. 1960 wurde er hingerichtet, die Familie riss vollends auseinander, die Spuren führen nach Prag, Berlin, Hamburg, Zürich und sogar nach Brasilien.

Die vier Söhne des Hingerichteten und deren Familien lässt Biller abwechselnd auf die Vergangenheit zurückblicken und begleitet sie peu à peu in Richtung Gegenwart. Da ist Dima, der Onkel des vorwiegend als Ich-Erzähler auftretenden Maxim, der wegen Devisenvergehen und versuchter Republikflucht in der Tschechoslowakei fünf Jahre Haft absitzen muss. Wir erfahren, dass Wladimir und Lev (die beiden älteren Brüder) sich früh in den Westen abgesetzt hatten. Wladimir führte in Brasilien ein erfolgreiches Bauunternehmen, Lev brach jeden Kontakt zur Familie ab und führte ein schwer zu durchschauendes Leben in West-Berlin.

Vater Sjoma, ein fleißiger Übersetzer literarischer Werke, und Natalia, die Frau des inhaftierten Dima, waren einst ein Paar. So wird en passant auch noch eine unerfüllte Liebesbeziehung rekonstruiert. Es wird viel geredet, allerdings mehr übereinander als miteinander. Misstrauen, vage Andeutungen, aber auch jede Menge (Ver)-Schweigen ziehen sich wie ein roter Faden durch den Roman.

Gerüchte und Denunziationen pflastern den Weg des jungen Maxim, der sich als Teenager in Zürich auf der Suche nach der »Wahrheit« begibt und auf eine eisige Mauer des Schweigens trifft.

Maxim Billers Figuren sind gezeichnet von den wechselnden totalitären Systemen. Angst, Verrat und Opportunismus sind von außen in die Familie eingedrungen und haben dort ihre Wunden hinterlassen, die auch nach Jahrzehnten noch nicht vernarbt sind.

»Wir waren verrückt, und wir werden zur Strafe unser Leben lang verrückt bleiben«, hieß es in Billers im Jahr 2000 erschienenen Roman ›Die Tochter‹, und so ähnlich verhält es sich auch mit den hier beschriebenen Familienmitgliedern.

Zum Ende des völlig unaufgeregt und sogar spannend (eigentlich völlig biller-untypisch!!) erzählten Romans sitzt Jelena, die ältere Schwester des Ich-Erzählers, die in England einen autobiografischen Roman veröffentlicht hat, in einem Radio-Studio und antwortet auf die Frage nach dem Verrat in ihrer Familie: »Das geht niemanden etwas an. Das verstehen sie doch, oder?«

Bewusst hält Maxim Biller das Ende offen. Unausgesprochen ist ›Sechs Koffer‹ auch eine schmerzhafte Suche nach familiären Wurzeln, vielleicht sogar (wenn es nicht zu pathetisch klingt) der Versuch, eine geografische Heimat zu verorten. Ganz sicher ist es aber das bisher unspektakulärste und (vielleicht gerade deswegen) gelungenste Biller-Werk. Endlich hat dieser fraglos begabte Autor eine adäquate Erzählstimme gefunden.

| PETER MOHR

Titelangaben
Maxim Biller: Sechs Koffer
Köln: Kiepenheuer und Witsch 2018
198 Seiten, 19 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe
| ›Kalauerjagd und Neurosenpflege‹: Peter Mohr über Maxim Billers Roman ›Biografie‹ in TITEL kulturmagazin

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Umblättern bitte!

Nächster Artikel

Brichst du auf gen Ithaka…

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Wirklich immer? – Political correctness

Roman | Jenny Erpenbeck: Gehen, ging, gegangen Lange Zeit waren sie mit ihren Zelten dort: am Berliner Oranienplatz. Jenny Erpenbeck widmet sich in ihrem Roman den Flüchtlingen und beschreitet damit neue Pfade. Intensive Recherchearbeiten und Gespräche mit Betroffenen gingen diesem Roman voraus. Das Ergebnis: ein Buch, das wachrüttelt, tief bewegt und doch etwas verärgert. Jenny Erpenbecks ›Gehen, ging, gegangen‹ – rezensiert von TANJA LINDAUER

Ein ehrenwertes Haus

Roman | Elisabeth Herrmann: Der Schneegänger Nach ›Das Dorf der Mörder‹ (2013) lässt Elisabeth Herrmann in ihrem neuen Roman ›Der Schneegänger‹ zum zweiten Mal den etwas unzugänglichen Berliner Kriminalhauptkommissar Lutz Gehring und die junge Polizistin Sanela Beara gemeinsam ermitteln. Beara absolviert inzwischen ein Studium des »Gehobenen Polizeivollzugsdienstes«. Gehring beißt sich die Zähne an einem wieder aktuell gewordenen Fall aus, den er vier Jahre zuvor im ersten Anlauf schon nicht bewältigt hat. Weil es dabei um das verschwundene Kind deutschstämmiger Kroaten ging, das man nun tot gefunden hat, glaubt der Hauptkommissar, in Beara, deren Familie aus Vukovar stammt, die ideale Ko-Ermittlerin

»30 Sekunden auf einer armseligen Welle«

Roman | Thomas Pynchon: Natürliche Mängel Der Unterschied zwischen gut und böse ist in L.A. der späten 60er Jahre nur schwer zu durchschauen – jedenfalls tappt sogar Thomas Pynchons junger Hippie-Detektiv Doc Sportello bei seinen Ermittlungen in Natürliche Mängel im Dunkeln. Von HUBERT HOLZMANN

Heimkehr mit Hindernissen

Roman | Heinrich Steinfest: Die Möbel des Teufels

Am 1. August 1976 stürzte die die Wiener Bezirke Leopoldstadt und Donaustadt verbindende Reichsbrücke auf voller Donaubreite ins Wasser. Am Nachmittag desselben Tages verunglückte auf dem Nürburgring der österreichische Formel-1-Pilot Niki Lauda mit seinem Ferrari schwer. Zufall oder Koinzidenz der Ereignisse? Wenn Heinrich Steinfest solche Ereignisse in das Leben seiner Romanfiguren hereinholt, ahnen die Leser inzwischen bereits: Es wird wieder einfallsreich. Und alles, auch das Unglaublichste, ist möglich. Denn »pure Zufälle sind der Aberglaube der Aufklärung.« Von DIETMAR JACOBSEN