»Ich glaube, man kann das eigene Leben nur erzählend bestehen, sich selbst erzählend. Der Mensch, der in eine wirkliche Notsituation gerät, in ein Gefangenenlager, in eine Gletscherspalte oder weiß ich, wohin: Der Mensch, der in der Gletscherspalte an einem Seil hängt, bereitet bereits die Erzählung vor, die er dann erzählen wird am Stammtisch. Wenn er gerettet wird«, hatte Peter Bichsel 2022 in einem Interview mit dem ›Deutschlandfunk‹ erklärt. Von PETER MOHR
Es gibt nicht wenige Literaturexperten, die behaupten, dass sich hinter Peter Bichels Kolumnen ein opulenter Roman verbergen würde und diese kleinen Prosaminiaturen sein eigentliches Hauptwerk seien. Vor zehn Jahren hatte er mit dem Band »Über das Wetter reden« (Suhrkamp Verlag) eine Mischung aus bissiger Zeitkritik, Banalitäten des Alltags, aber auch mit tiefgründigen philosophisch untermalten Gedankenspielen vorgelegt. Und doch lasen wir dieses Büchlein mit einer Träne im Augenwinkel, denn dem letzten Satz des Bandes haftet der Atem der Endgültigkeit, der Unumkehrbarkeit an: »Jetzt verabschiede ich mich und versuche, geradeaus zu gehen.«
Peter Bichsel, der am 24. März 1935 in Luzern als Sohn eines Handwerkers geboren wurde, ist ein Sonderfall in der deutschsprachigen Literatur. Er schreibt nur wenige literarische Texte (im Vergleich zu anderen Schriftstellern seines Ranges), hat aber dennoch Werke von bleibendem Wert veröffentlicht, erhielt zahlreiche renommierte Literaturpreise, die Ehrendoktorwürde der Universität Basel und wurde zu Gastdozenturen im In- und Ausland eingeladen.
Bichsels besonderer Stellenwert wurde auch dadurch deutlich, dass zu einem 75. Geburtstag unter dem Titel ›Zimmer 202‹ ein Filmportrait von Eric Bergkraut in die Schweizer Kinos gekommen war. Der Regisseur hatte Bichsel nach Paris verfrachtet und war mit ihm auf eine Art Zeitreise gegangen. »Ich bin immer noch Sozialist mit marxistischem Hintergrund«, bekannte der Autor trotzig vor laufender Kamera. Sein ambivalentes Verhältnis zur Schweiz drückt sich auch darin aus, dass ihn (nach eigenem Bekunden) ein »patriotisches Würgen« befällt, wenn er Schweizer Sportler auf dem Siegertreppchen sieht.
Als Bichsel 1964 mit seinem 21 schmale Texte umfassenden Geschichtband ›Eigentlich wollte Frau Blum den Milchmann kennenlernen‹ debütierte, gehörte Marcel Reich-Ranicki zu den lautstärksten Bewunderern dieser radikal verknappten Prosa, für die er mit dem angesehenen Preis der Gruppe 47 ausgezeichnet wurde. Seine stilistischen Eigenheiten hat sich Bichsel zeitlebens bewahrt. Das ausschweifende Erzählen war nie seine Sache, und so hat er in der Kolumne, die bei ihm zur Mischform aus Journalismus und Literatur wird, seine Heimat entdeckt.
Oft – und nicht zu Unrecht – wurde er mit seinen Landsleuten Johan Peter Hebel und Robert Walser verglichen, den Meistern der Prosaminiaturen. In seinen ›Kindergeschichten‹ (1969), in denen auch der wohl bekannteste Bichsel-Text ›Ein Tisch ist ein Tisch‹ enthalten ist, und im Band ›Der Busant‹ (1985) kam er ihnen am nächsten.
Kürzlich wurde (initiiert durch die Literaten Beat Mazenauer und Frano Supino) das »Büro Bichsel« gegründet. Es steht für ein dreiteiliges Projekt, das aus einem mobilen Museum, einem Lese- und Arbeitsraum in Solothurn sowie einer Website besteht, auf der nach und nach ein »Universum Bichsel« entstehen soll.
Peter Bichsel, der zuletzt in Bellach bei Solothurn lebte, war einer der letzten, leicht skurrilen Individualisten der deutschsprachigen Literatur: »Die Geschichten dieser Welt sind geschrieben und müssen trotzdem immer wieder geschrieben werden, nicht weil wir neue Geschichten brauchen. Sie müssen geschrieben werden, damit die Tradition des Erzählens, des Geschichtenschreibens nicht ausstirbt.« Nun ist Peter Bichsel, wenige Tage vor seinem 90. Geburtstag, in Solothurn gestorben.
| PETER MOHR
| Abbildung: Dontworry, Peter-bichsel-nationalbibliothek-2012-ffm-431, CC BY-SA 3.0