Würde man Michael K. oder Peter J. fragen, wer denn der beste CoD-Multiplayer-Spieler in ihrem Freundeskreis sei, kämen die beiden bestimmt nicht auf RUDOLF INDERST. Denn der tagträumt sich seit 2010 durch eine der ikonischsten, re-iterierenden virtuellen Topographien der Digitalspielgeschichte.
Unruhig liege ich da; ein Stückchen nach links, ein Stücken nach rechts. Dann vorwärts, nein, wieder zurück. Langsam. Unauffällig. Denn … man weiß schließlich nie, ob das kleine bisschen Bewegung schon im Augenwinkel des Gegners oder der Gegnerin auffällt. Der linke Finger. Ich muss ihn kurz entspannen. Aber dann verliere ich den Zoom! Okay, okay. Entspannen. Zeit kaufen, ja, genau. Ich kaufe Zeit, indem ich eine Blendgranate werfe. Vielleicht erwische ich sogar einen in das Haus stürmenden Schützen oder eine Schützin. Meine gute alte Tanto .22 würde kurzen …
… zu spät werfe ich die Handgranate, die wie in Zeitlupe durch die offene Eingangstür segelt, zurück. Ich schlucke. Ich weiß, was nun kommen wird und schließe ergeben meine Augen. Dann die Detonation. Alles auf Neustart.
Nein, an diesem Spiel haftet nichts Black-Ops-artiges. Im Gegenteil. Seit 2010 wird hier angelegt, gezielt und abgedrückt. Aus Einsen wurden dergestalt schon so viele Nullen, dass ein Nachdenken darüber Schwindel auslöst. Drohnen und Counter-Drohnen, Helikopter und Kleinstflächenbombardements – in Nuke Town ist das Tagesgeschäft und für Spieler:innen nicht der Rede wert.
Frisch auf der Map lasse ich mich wie ein Narr von einem plötzlich um die Häuserecke biegenden Wesen mit Sturmmaske (oder war es eine Kapuze oder ein Headset?) überrumpeln und verpasse ihm ein paar – wie ich meine – satte Treffer in die Wadenmuskulatur mit meiner GPR 91, was mein Gegenüber allerdings nicht zu beeindrucken scheint. Hektisch werde ich zu Mr. Sprayandpray, aber mein Schicksal ist bereits besiegelt. Die Götter und Göttinnen des Shooter-Olymp lachen grausam. Elegant beendet seine ASG-89 mein kümmerlich-amateurhaftes Dasein. Neustart.
›Nuketown‹ ist eine bekannte Mehrspieler-Map aus der First-Person-Shooter-Reihe ›Call of Duty‹, die von Activision veröffentlicht wird. Die Map ist in einer fiktiven Atomteststadt in der Wüste Nevadas angesiedelt und zeichnet sich durch ihre symmetrische Struktur aus: Zwei identische Seiten, getrennt durch eine zentrale Straße, bilden das Spielfeld. Jede Seite verfügt über ein zweistöckiges Haus mit einem Hinterhof, während auf der Straße geparkte Fahrzeuge als zusätzliche Deckung dienen. Aufgrund ihrer kompakten Größe ist die Map für schnelle, intensive Gefechte bekannt, die oft hektisch und actionreich verlaufen. Ein markantes Merkmal ist das dramatische Ende jedes Spiels: Sobald die Runde beendet ist, detoniert eine Atombombe, die die gesamte Stadt in einer spektakulären Explosion zerstört.
Die Transformation der Doom Towns – jener menschenleeren, künstlich errichteten Siedlungen, die während des Kalten Krieges als Testgelände für nukleare Sprengversuche dienten – in die virtuelle Kampfumgebung der Nuke-Town-Karten der populären Spielreihe stellt eine bemerkenswerte kulturelle und philosophische Metamorphose dar. Dieser Wandel wirft tiefgreifende Fragen auf, die nicht nur die Mechanismen der Erinnerungskultur betreffen, sondern auch die Verhältnissetzung von Virtualität, Gewaltästhetik und dem Umgang mit historischen Traumata innerhalb der digitalen Unterhaltungsindustrie problematisieren.
… meine Xbox-App zeigt gnadenlos, wie lange ich schon wieder in dieser – im doppelt Sinne virtuellen – Kleinstadt besseren Spieler:innen beim Gewinnen zusehe …
Die Doom Towns waren reale Orte, konzipiert, um die Auswirkungen nuklearer Detonationen auf eine typische amerikanische Kleinstadt zu simulieren (Matthews 2012, S.85). Sie standen emblematisch für die existentielle Bedrohung des Kalten Krieges, für das fragile Gleichgewicht zwischen technologischer Fortschrittlichkeit und der latenten Gefahr totaler Zerstörung. Diese Testgelände waren nicht bloß experimentelle Versuchsanordnungen, sondern verdichteten in ihrer dystopischen Künstlichkeit die Angst vor einem nuklearen Holocaust, die Verwundbarkeit urbaner Zivilisation und das Paradox der technologischen Moderne, die sowohl Schutz als auch Zerstörung versprach.
Die digitale Rekontextualisierung dieser Orte in Call of Duty verändert ihre Bedeutung fundamental. Während die Doom Towns einst statische Monumente einer möglichen Apokalypse waren, werden sie in Nuke Town zu interaktiven, dynamischen Spielfeldern, in denen virtuelle Gewalt als spielerisches Element inszeniert wird. Die einstige Stille und Bedrohlichkeit dieser Orte weicht einer pulsierenden, kompetitiven Atmosphäre, in der Spielerinnen und Spieler immer wieder in simulierte Kämpfe eintreten, sterben und unmittelbar darauf wiederbelebt werden. Diese ludische Transformation zeugt von einer tiefgreifenden Entfremdung der historischen Realität: Was einst als Mahnmal nuklearer Verwüstung diente, wird in der digitalen Sphäre zu einer ästhetisierten Kulisse für Unterhaltung umgestaltet.
… eine Kontrahentin nimmt mich als Geisel; es wird ihr nicht sonderlich schwergefallen sein, sich von hinten anzuschleichen. Schließlich habe ich den Ton ausgestellt, um die Podcasts nebenher zu hören, bei denen ich gestern eingeschlafen bin. Wie soll man um 23.30 Uhr nacheinander auch Lage der Nation und Das HE-MANische Quartett schaffen? Selbstredend hatte ich zum Zeitpunkt der Geiselnahme noch keinen einzigen Schuss aus meiner SVD abgegeben …
Dieser Prozess des Spielens lässt sich als ein Phänomen der Gamification von Erinnerung begreifen. Die historische Schwere der Doom Towns wird in eine spielerische, wiederholbare Erfahrung überführt, die das ursprüngliche Trauma der nuklearen Bedrohung entschärft und es in eine konsumierbare Form überträgt. Dabei wird eine paradoxe Distanz erzeugt: Einerseits erfolgt durch die spielerische Interaktion eine Aneignung des historischen Settings, andererseits wird die reale Bedeutung der Doom Towns zugunsten eines immersiven Spielerlebnisses verdrängt. Diese Entwicklung kann als symptomatisch für eine postmoderne Ästhetik der Zerstörung betrachtet werden, in der Katastrophennarrative nicht mehr primär als Gegenstand kritischer Reflexion, sondern als Schauplätze spektakulärer Inszenierung fungieren. Besonders bemerkenswert ist die ironische Umkehrung der ursprünglichen Funktion dieser Orte. Während die Doom Towns einst gespenstische Stätten der Stille waren, in denen die Auswirkungen nuklearer Detonationen auf leblose Architektur untersucht wurden, sind sie nun von virtuellen Kriegern bevölkert, die in endlosen Gefechten aufeinandertreffen. Hierbei wird das Konzept der Belebung auf den Kopf gestellt: Es ist nicht das organische Leben, das an diesen Orten zurückkehrt, sondern eine inszenierte Gewalt, die innerhalb der digitalen Spielwelt keine realen Konsequenzen nach sich zieht. Die nukleare Bedrohung wird zur Ästhetik, das Grauen zur Kulisse eines endlosen Wettkampfs.
Diese Entwicklung wirft grundsätzliche Fragen über das kulturelle Gedächtnis auf. Werden durch die Adaption der Doom Towns in einer populären Unterhaltungsform historische Ereignisse memoriert oder vielmehr trivialisiert? Fungieren solche digitalen Rekontextualisierungen als Mittel zur kritischen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, oder führen sie zu einer Verharmlosung und letztlich einer Verdrängung historischer Traumata? Die Reflexion über diese Fragen offenbart ein Spannungsfeld zwischen der Bewahrung historischer Erinnerung und ihrer kommerziellen Verwertung im Bereich der digitalen Spieleindustrie. Zugleich ist die Popularität von Nuke Town ein Indikator für eine tief verwurzelte Faszination für das Spektakel der Zerstörung. Die leuchtenden Farben, die geometrische Klarheit und die surrealen Details der Karte kontrastieren scharf mit der dunklen Geschichte ihrer realen Vorbilder. Diese Ästhetisierung der Katastrophe spiegelt eine gesellschaftliche Tendenz wider, Bedrohungsszenarien in kontrollierbare, konsumierbare Formen zu überführen – sei es zur Bewältigung, zur Sublimierung oder zur Entschärfung realer Ängste. In der digitalen Sphäre wird die Apokalypse nicht nur durchgespielt, sondern auch in eine Form überführt, die Vergnügen bereitet und zum immersiven Erlebnis wird.
… meine Sprengfalle beschert mir ein paar Punkte und es gelingt mir sogar durch puren Zufall, dem anderen Team ein Mitglied durch dummdreistes Prügeln zu entreißen. Diese Keilerei fand zu meinem Unglück leider vor einem offenen Fenster im ersten Stock statt. Durch dieses passt allerdings wunderbar ein Geschoss aus der HE-1. Keine Zeit zu reagieren. Neustart …
Die Transformation der Doom Towns in Nuke Town stellt nicht nur eine kulturelle Aneignung historischer Orte dar, sondern fungiert als Spiegelbild der ambivalenten Beziehung der Gesellschaft zu Gewalt, Erinnerung und Virtualität. Sie macht sichtbar, wie kollektive Ängste in fiktive, interaktive Welten übertragen werden, um sie zu verarbeiten und zu kontrollieren. Doch bleibt die Frage offen, ob dieser Prozess zu einer bewussten Auseinandersetzung mit der Geschichte führt – oder ob er vielmehr die Vergangenheit in ein spielerisches Spektakel verwandelt, das uns gerade durch seine Distanz zur Realität vergessen lässt, wovor es einst warnte. In diesem Sinne ist Nuke Town nicht bloß eine Spielumgebung, sondern ein philosophisches Paradox: ein Ort, an dem Zerstörung zur Unterhaltung wird, die Vergangenheit in der Virtualität überdauert und die Grenzen zwischen historischer Reflexion und ihrer Ästhetisierung zunehmend verschwimmen.
PS: Ja, dies war ein Text, ohne diesen einen Mann, der sich vor einer Atomexplosion in einem Kühlschrank versteckt und überlebt. »In Film. Nicht in echt.«
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Matthews, M. E.: DUCK AND COVER
Civil Defense Images in Film and Television from the Cold War to 9/11
Jefferson NC: McFarland & Company 2020
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