//

Maschinenwesen

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Maschinenwesen

Von wem das Wort stammt?

Maschinenwesen? Vom Goethe aus Europa.

Und, Thimbleman?

Es trifft.

Wie, es trifft.

Du siehst es überall, wirf einen Blick in den Hafen, der Windjammer werde vom maschinengetriebenen Dampfer abgelöst, und über Land werde der Schienenstrang der Eisenbahn bis hin zum Pazifik verlegt.

Das wäre das Maschinenwesen?

Das wäre das Maschinenwesen, Ausguck, unaufhaltsam, es werde sich umsetzen in technologischen Revolutionen, es werde verführen, werde aufrüsten, werde die Macht an sich reißen.

Eldin legte einen Scheit Holz ins Feuer, die Flamme schlug hoch.

Die ›Boston‹ lag vor Anker, die Harpunenkanone war nicht erfunden, und Crockeye war froh, den Wal mit einer Harpune zu erlegen, niemand sei neugierig auf moderne Zeiten oder wünsche sie herbei.

London schwieg, er hing eigenen Gedanken nach.

Das Rauschen des Ozeans klang aus weiter Distanz.

LaBelle hätte gern eine Kleinigkeit zu essen.

Touste schlug eine Melodie an.

Fracht- und Personenbeförderung würden in einer Weise beschleunigt, die sich niemand habe ausmalen können, sagte Thimbleman, gegenwärtig noch Postkutsche, in der Zukunft ICE und Flieger, die Kommunikation werde vom Fernschreiber über Funk zur digitalen Technik fortentwickelt, der Mensch werde eine in hohem Maße automatisierte, hochsensible Infrastruktur etablieren, mit der er sich, Kehrseite der Medaille, entbehrlich mache, er werde sich marginalisieren.

Das werde lustig, sagte der Ausguck, er werde sich abschaffen? Homo sapiens? Wie blind könne man sein?

Im Endeffekt sei das schwer zu sagen, sagte Thimbleman, und auch wenn der Mensch verzichtbar werde – das Maschinenwesen in seinem rasanten Aufstieg bleibe unfähig, Entscheidungen zu treffen, die über das ihm vorliegende Datenmaterial hinausgriffen, und könne nicht schöpferisch tätig werden.

Das könne der Mensch.

Du sagst es. Er habe ja das Maschinenwesen begründet.

Das ihn nun abserviere.

So kannst du es sehen, Ausguck. Ein qualitativer Sprung wäre das Covid 19-Virus, das im einundzwanzigsten Jahrhundert grassieren werde.

Ein Virus?

Virus nenne er auch das auslösende Moment einer Störung digitaler Abläufe,  eine kontraproduktive Rechenoperation, disruptiv, mutwillig herbeigeführt, dieses Virus ähnele einer globalen Schwarmintelligenz, der nur begrenzt beizukommen sei, weil sie sich neuen Gegebenheiten anpasse.

Da sehe der Mensch alt aus.

Mächtig alt, Ausguck, und das Virus störe dessen elementare Lebensgrundlagen: persönliche Begegnungen, Nähe, Hinwendung zum Nächsten – all das, was einen hohen Rang im Leben einnehme, verstehst du, das Virus sei eine weitere Etappe in der Machtergreifung des Maschinenwesens, die Spätfolgen seien unerforscht, und sogar über die Herkunft des Virus sei man nicht einig, das Virus sei, so laute ein ernstzunehmender Ansatz, im Kontext militärischer Forschung im chinesischen Wuhan freigesetzt worden, da werde der Mensch zum Erfüllungsgehilfen.

Der Ausguck stand auf, nahm einen kurzen Anlauf, schlug einen Salto und streckte sich wieder lang in den warmen Sand: Das interessiere schon, sagte er, schließlich betreffe es unsere Nachfahren, auch wenn sie im einundzwanzigsten Jahrhundert lebten.

Die Dinge seien verwirrend, Ausguck, das Maschinenwesen habe dennoch kaum eine Zukunft, vielleicht als ein letzter Abschnitt der Vertreibung des Menschen, als eine äußerst radikal agierende Kraft, es werde sich mit ›selbstfahrenden Autos‹ hervortun, mit einer ›künstlichen Intelligenz‹, werde sich mit einnehmenden Etiketten schmücken wie ›Fortschritt‹ und ›Wachstum‹ und möge sogar noch eine Weile existieren, nachdem der Mensch längst von der Erde eliminiert sein werde.

Seine Herrschaft werde, so sie denn zustande komme, nicht überdauern, Ausguck, das Maschinenwesen wäre mehr noch als der Mensch abhängig von den Ressourcen der Natur, doch die Natur sei seitens des Maschinenwesens nicht steuerbar, unmöglich, das Maschinenwesen sei kein subjektiv handelnder Agent, es werde nicht staunen, werde sich nicht wundern, habe keine Träume, was für ein Elend, die Dinge würden humorlos verrotten, eine Fassade, oh Satansfurz und Hexenbrut, Potemkinsche Dörfer auf einem heruntergewirtschafteten Planeten, das Maschinenwesen stürze zu guter Letzt ein wie ein Kartenhaus, geräuschlos, ein fake, des Kaisers neue Kleider, aus, vorbei, das wär’s dann mit selbstfahrenden Autos, mit künstlicher Intelligenz, mit digitaler Kommunikation, sei’s drum, nichts für ungut, ein Haschen nach Wind, und niemand werde noch da sein, das zu bemerken

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Die Kleine Schwester Weimars

Nächster Artikel

Eine besondere Vorliebe

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Vision

TITEl-Textfeld | Wolf Senff: Vision

Eine Vision?
Vergiß es.
Man könnte es versuchen.
Vergiß es.
Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.
Wer`s glaubt.
Man müßte nach neuen Entwicklungen suchen, Farb, die sich bildenden demokratischen Strukturen wären eine gewichtige neue Kraft, sogar in China wird gewählt, in Rußland wird gewählt.
Farb lächelte: Aber unter welchen Bedingungen.

Schwebend am Abgrund

Kurzprosa | Sarah Raich: Dieses makellose Blau

In diesem Band, der elf kurze Erzählungen der 1979 geborenen Schriftstellerin Sarah Raich versammelt, ist vieles blau: der Himmel, die Augen eines Babys und die eines Mannes, der kaum noch lebt, das Blaulicht, das ihn abholen soll, fünf leuchtende Vogeleier, die Anzeige in einem Auto, über das jemand bald die Kontrolle verlieren wird. Oft ist das Blau trügerisch, wie etwa der Himmel der – relativ kurzen – Titelgeschichte, der nur »eine Hülle zwischen ihnen und der Wirklichkeit ist, der Düsternis des Weltalls und den brennenden Sternen.« Die Frau, die in dieser Geschichte mit ihren Söhnen einen nachmittäglichen Spaziergang macht, hat sich angewöhnt, ihrem Sohn auf seine Fragen das zu antworten, »was nach den vielen Filtern, die sie für ihn zwischen ihre Gedanken und ihre Worte legt, noch übrigbleibt.« Von SIBYLLE LUITHLEN

Doppelkopf

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Doppelkopf

Wette, wir könnten Wette einladen.
Wozu?
Wir wären zu viert und spielen Doppelkopf.
Schwierig, Annika.
Weshalb?
Jeder spielt nach anderen Regeln, ständig wird gestritten, etwa darüber, welche Herz zehn gewinnt, eine zuerst oder eine zuletzt ausgespielte, das ist keine reine Freude, auch ob und wann ein Solo gespielt wird, auch wie die Punkte gezählt werden

Taiping

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Taiping

Ein Aufstand, und deshalb, sagst du, flüchteten sie zuhauf über den Ozean, wie kommst du darauf, Thimbleman?

Sie erzählen es in der Barbary Row, die Welt ist aus den Fugen.

In deinem Alter solltest du dich nicht in zwielichtigen Spelunken herumtreiben. Aber es stimmt, in südlichen Provinzen Chinas tobt ein Aufstand, eine mächtige religiöse Bewegung gewinnt an Macht, 1851 wird das Königreich Taiping ausgerufen, das ist jetzt eine Handvoll Jahre her, und der Anführer ernennt sich zum Himmlischen König, fünfzehn Jahre lang, Wuhan wird erobert und Nanjing wird eingenommen, der Aufstand wird zwanzig bis dreißig Millionen Menschenleben fordern, die Welt ist aus den Fugen.

Zuversicht

TITEL-Textfeld | Wolf  Senff: Zuversicht

Das selbstschlagende Herz?

Nein, nicht, keine Erfindung des Homo sapiens, nein.

Eine Stimme, die spricht und singt?

Auch nicht, nein, hat er nicht erfunden.

Zwei Augen, mit denen man den Blick auf die zehntausend Dinge werfen kann?

Fehlanzeige.