//

Entscheidung

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Entscheidung

Ob es nicht an der Zeit wäre, fragte der Ausguck, wieder auf Walfang zu gehen.

Die anderen nickten.

Höchste Zeit, bekräftigte London.

Wie lange hatten sie ausgesetzt, überlegte Harmat, sechs Tage?

Die Tage würden ihm lang, die Untätigkeit setze ihm zu, erklärte Bildoon.

Ob die Blessuren vom ersten Fangtag denn ausgeheilt seien, fragte Pirelli.

Alles kuriert bis auf Eldins Schulter, sagte Crockeye.

Eldin schwieg.

Wir benötigen zwei voll besetzte Schaluppen, sagte London, und jemand müsse bis auf weiteres Eldins Platz an der Harpune einnehmen.

Mit dieser Forderung, so behutsam sie daherkam, wagte sich London auf dünnes Eis, doch niemand widersprach ihm.

Eldin schwieg weiterhin, er hatte sich abgewandt, stützte sich auf die Reling und blickte ins Land, als ginge ihn das alles nichts an, er machte zu, so hatten sie ihn einige Male erlebt.

Man müsse Scammons Befehle einholen, sagte Labelle.

Eldin sei ein sturer Hund, überlegte Mahorner, und werde freiwillig keine einzige Position aufgeben. Scammon? Der lasse sich selten an Deck sehen, er sitze in seiner Kajüte, brüte über seinen Aufzeichnungen und werde sich hüten, seinem Ersten ins Handwerk zu pfuschen.

Auch Pirelli war es leid, weitere Tage verstreichen zu lassen, ihn beschäftigte vor allem der Fangertrag. In dieser nördlichen Lagune, von der außer ihnen niemand wußte, hatten sie keine Konkurrenten zu fürchten, deshalb würden sie sich einige Tage des Nichtstuns sogar leisten können, ihre Position war exzellent, die Saison dauerte schließlich bis in den März. Doch die Tatenlosigkeit wäre nicht so einfach auszuhalten, glaubte Pirelli, was sollten die Leute anstellen, das Land war öde und trostlos, man drohte hier an Langeweile zu ersticken, und es war ungewöhnlich, daß es bislang keine ernsthaften Scharmützel gegeben hatte. Eldin war jung und ehrgeizig, und die verletzte Schulter hatte ihn schmerzhaft aus der alltäglichen Routine geworfen.

Er sei ein cholerischer Charakter, hieß es, er trage stets einen Schlagring bei sich und verliere durchaus einmal die Kontrolle. So sah er jetzt auch aus, den Kopf leicht gerötet, den Nacken krampfhaft gespannt, voll angestauter Wut über sein Mißgeschick. Während es heftig in ihm arbeitete, vergingen einige Minuten.

LaBelle war entrüstet. Wie war es möglich, daß der Erste Offizier das Gespräch verweigerte, er faßte seine verletzte Schulter als einen persönlichen Angriff auf, oder? Er war beleidigt, er fühlte sich gekränkt, er zickte herum wie eine eingebildete Göre, das war wenig professionell, und damit war niemandem geholfen.

Unmöglich, das sah auch Mahorner so, aber er hatte Sympathien für Eldin, den spindeldürren Ersten, der dort stand, als trüge er das Elend der Welt auf seinen Schultern, und sich in all seinem Jammer verzweifelt an die Reling klammerte.

Daß er dadurch nicht an Statur gewann, bewies ein Blick auf Crockeyes verächtlichen Gesichtsausdruck, Crockeye war ein eher einfaches Gemüt, er hielt sich an klare, unmißverständliche Anweisungen, doch dazu war Eldin in seiner gegenwärtigen Verfassung nicht imstande.

Die Stimmung war explosiv, man vernahm allein den Wellenschlag der Lagune, ein sanftes Hintergrundgeräusch, aber niemand ergriff das Wort, jeder wartete gespannt, dass etwas geschähe, doch allem Anschein nach beruhigte sich Eldin, sein fester Griff um die Reling ließ nach, seine Haltung lockerte sich, er wandte das Gesicht den Männern zu und schien sogar zu lächeln.

Er sah London an, eine unverkennbare Aufforderung im Blick, doch London schwieg.

Was würde Eldin tun? Wie schwer würde es für ihn wiegen, die Funktion des Harpuniers abzutreten, und wäre es zeitweise? Er säße ja mit in der Schaluppe, und sobald ein anderer sich als Harpunier bewiese, würde Eldin um sein Ansehen fürchten, sein Status wäre beschädigt und seine Anteile am Fangerfolg geschmälert, auch das spielte eine Rolle.

Ob er über all das nachdachte? Vermutlich nicht in dieser Klarheit, er war ein impulsiver Charakter, doch er konnte die Stimmung und den Druck der Mannschaft nicht ignorieren, die Situation war reif, er würde, wie man zu sagen pflegt, über seinen Schatten springen müssen.

| WOLF SENFF

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Wenn das Hotel zum Reiseziel wird

Nächster Artikel

Die Sache mit dem Müll

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Leben

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Leben

Wo stammt das Leben her, von irgendwoher muß es ja kommen, oder ist es bloß einfach da, sonst nichts, unvorstellbar.

Das beschäftigt dich, Tilman?

Wo sein Ursprung liegt und wie das Leben sortiert ist, gewiß, das beschäftigt mich, ob einem Tier mehr davon zuteil wird als einer Pflanze, dem mächtigen Baum mehr als dem stillen Gänseblümchen, auf welche Weise ich daran teilhabe, und blüht das Gänseblümchen auch für mich.

Krieg und Frieden

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Krieg und Frieden

Tilman schenkte Tee nach.

Farb legte sich ein Stück Pflaumenkuchen auf.

An einem ruhigen, milden Nachmittag neigte sich die Sonne dem Horizont entgegen.

Ob das so alles richtig sei, fragte Anne.

Kitsch, sagte Farb, wir leben ein kitschiges Idyll, gänzlich unzeitgemäß.

Renaissance

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Renaissance

Die länger als drei Jahrtausende bestehende Kultur teilt sich historisch in mehrere Abschnitte.

Wieder Ägypten, stöhnte Farb.

Das lasse ihn nicht los, sagte Anne.

Farb warf einen Blick hinüber zum Gohliser Schlößchen.

Und sei brandaktuell, ergänzte sie, ihn beschäftigt die Saitenzeit des siebenten und sechsten Jahrhunderts, ein Abschnitt der Spätzeit und der Renaissance des Altertums.

Tilman lächelte.

Eskalation

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Eskalation

Weshalb im März ein Ventilator in Betrieb war, das sollte einmal jemand erklären. Erst im Mai würde es heiß, so viel stand fest, die auch preislich noch einmal angehobene Saison begann im Mai, und wenn überhaupt, wäre das die geeignete Zeit für Ventilatoren. Die Abläufe im Lager, kein Zweifel, waren lückenhaft organisiert.

Oder waren Ventilatoren neuerdings schick? War ein Boom angesagt? Sollte man Aktien kaufen? War der Bürokrat aus Uelzen eingetroffen?

Wenn der Sprachlehrer zur Spitzhacke greift

Kurzprosa | Javier Marias: Keine Liebe mehr »Je älter ich werde, desto weniger Gewissheiten habe ich«, erklärte der spanische Schriftsteller Javier Marías kürzlich in einem Interview. Vor ziemlich genau zwanzig Jahren war er nach Erscheinen der Übersetzung seines Romans ›Mein Herz so weiß‹ von Marcel Reich-Ranicki im »Literarischen Quartett« des ZDF für den deutschen Sprachraum entdeckt worden. Von PETER MOHR