Sehr geehrte Bürgermeisterin Frau John, liebe Frau Fischer, sehr geehrte Mitglieder des Kuratoriums des Dr. Hedwig-Meyn-Preises, liebe Freundinnen und Freunde, liebes Lüneburg, in der letzten Zeit wurden einige Literaturpreise vergeben, der Literaturnobelpreis, der Büchnerpreis und unter dem Getöse eines schlechten Verlierers der Deutsche Buchpreis. Alles große Preise, wichtige Preise, teilweise mit weltweiter Aufmerksamkeit bedachte Preise, und trotzdem, muss ich sagen, könnte für mich kein Preis schöner sein als der Dr.-Hedwig-Meyn-Preis der Stadt Lüneburg. Na, na, na, wird manch einer oder eine jetzt denken, er übertreibt. Aber er übertreibt natürlich nicht. Und zwar aus drei Gründen. Von MARTIN LECHNER
Erstens ist dieser Preis der allererste, den ich erhalte für meine literarische Arbeit. Die Freude darüber schäumt mir im Blut wie Champagner. Zweitens kommt er aus eben jener Stadt, in der ich aufgewachsen bin und mich bis zum heutigen Tage aufhalte, hin und wieder leibhaftig, häufig aber und nahezu täglich als literarisches Gespenst, das unsichtbar durch die Gassen schwebt. Und drittens schließlich spielen meine Romane – es sind bisher zwei, ein dritter befindet sich noch im verschwebten Zustand der Entstehung und erscheint im August 2025 – spielen meine Romane in Lüneburg. Dieser Satz ist wahr und dieser Satz ist falsch. Wahr und falsch zugleich, wie kann das sein? Lüneburg heißt in meinen Romanen anders. Und warum das so ist, darüber will ich heute Abend einmal laut nachdenken.

Dazu möchte ich Sie mitnehmen in den März des Jahres 2004. Der März des Jahres 2004 war der Monat vor dem April des Jahres 2004. Das mag einigen von Ihnen schon bekannt gewesen sein. Weniger bekannt ist es aber vielleicht, dass der März des Jahres 2004 der Monat vor meinem dreißigsten Geburtstag war. Und noch weniger und vielleicht niemandem bekannt ist es vermutlich, dass ich in diesem März des Jahres 2004 in meiner damaligen, ziemlich staubigen und werkstatthaften Studentenwohnung im Kreis getrieben wurde, rundherum und rundherum, und zwar von dem Gedanken, ich müsste noch vor meinem dreißigsten Geburtstag einen ersten Roman geschrieben haben. Leider aber hatte ich zu Beginn des Monats noch nicht einmal den ersten Satz dieses ersten Romans geschrieben. Zum Ende des Monats, dessen Tage ziemlich rasant vom Kalender gezupft wurden, war das Problem leider nicht kleiner, sondern größer. Denn ich hatte noch immer keinen ersten, geschweige denn einen zweiten Satz dieses ersten Romans geschrieben. Dann schreib doch Erzählungen, sprach eine Stimme. Und so schrieb ich eine erste Erzählung, und dann schrieb eine zweite Erzählung, und dann schrieb ich eins, zwei, drei, vier, viereinhalb und fast fünf Seiten einer dritten Erzählung. Dann rollte schon der Geburtstag über mich hinweg und ich erwachte nackt, literarisch nackt, wohlgemerkt, und mit nichts bekleidet als mit den klirrenden Fahnen der gescheiterten Ambition.
Jetzt ist auch egal, dachte ich und schaute mir die letzte Geschichte noch einmal an. Ich hatte eben beobachtet, wie mein Held aus einem Bus gestiegen war, mit einem Koffer in der Hand, den er seinem Chef geklaut hatte. Schon stürmte er durch ein Feld, stolperte durch einen Wald, stürzte über eine Leiche, klaute ein Mofa und war auf der Flucht. Diese Flucht, bei der im Laufe des Romans alles verloren geht, die Arbeit, die Wohnung, die Eltern, die Liebe, die Freunde und kleines Kuchenstück des Verstandes, führt ihn genau dahin zurück, um dieses Paradox dreht sich der Roman, wovor er flüchtet, nämlich nach – und jetzt hätte ich schreiben sollen: Lüneburg. Doch da geschah das Merkwürdige.
Ich hatte kaum die erste Schleife des schönen Buchstaben L geschrieben, so wie ihn mir Frau Luckow, auch mit L, an der Grundschule im Grimm beigebracht hatte, da ertönte ein hässliches Kratzgeräusch und ein großer Tintenfleck ergoss sich auf die Seite. Was war geschehen? Die Feder meines Füllers hatte sich gespalten. Weiter, weiter, dachte ich und nahm einen Bleistift. Aber die Bleistiftspitze brach ab. Los, los, dachte ich und nahm einen Kugelschreiber. Aber sofort versiegte die Tinte. Schnell, schnell, dachte ich und setzte mich an den Computer. Aber sogleich versanken und ertranken die Buchstaben im unerbittlichen Weiß des Bildschirms.
Irgendetwas, ich wusste nicht was, hinderte mich daran, die Geschichte nach Lüneburg zu führen. Schließlich war ich so verzweifelt, dass ich einen Ersatznamen auf einen Zettel schrieb. Woher er kam, könnte ich heute gar nicht mehr sagen, er war hilfreich herbeigesprungen, denke ich, aus irgendeinem liebevollen Nichts. Vielleicht würde sich die Geschichte unter diesem neuen Namen erzählen lassen.
Also nahm ich den Zettel, auf dem ich den Namen notiert hatte, es war ein kleiner, gelber Post-It-Zettel, und heftete ihn oben in den abgrundblauen Himmel über dem Platz am Sande. Ich weiß nicht, ob ihn jemand von Ihnen gesehen hat, wahrscheinlich nicht, er war wirklich sehr klein. Aber unbemerkt blieb er auch nicht. Aus der Stadt nämlich stieg ein leiser Widerspruch auf. Die alte Kanone auf dem Kalkberg, meine ich gehört zu haben, hustete eine Fuhre Staub aus bei dem Versuch, einen Schuss abzugeben, einen Protestschuss gegen diesen neuen Namen. Das schwangere Haus in der Waagestraße, erzählte mir jemand, wackelte beleidigt mit dem Bauch. Und sogar die Lüneburger Salzsau soll empört aus dem Jenseits gegrunzt haben.
Ich selbst habe von all diesen Protesten gar nichts mitbekommen. Denn ich war vollauf damit beschäftigt, meiner Hand zu folgen, die sich jetzt mit vollem Schwung hineinschrieb in diese neu benannte Stadt, nämlich nach Linderstedt.
Wie ist das zu erklären? Dass Lüneburg in den Romanen Linderstedt ist? Bis heute, muss ich gestehen, weiß ich es nicht. Oder nicht genau. Aber ich will mich aber an einer Antwort versuchen, einer Antwort in mehreren Anläufen.
Lüneburg, glaube ich, ist in den Romanen Linderstedt, weil mir Lüneburg zu vertraut ist, zu wenig fremd, zu heimelig und zu wenig unheimlich, zu sicher und zu wenig Verunsicherungsanstalt, zu der mir die Welt gerät, sobald ich schreibe.
Lüneburg ist Linderstedt, weil sich keine Stadt, wie scharf die Stifte auch gespitzt werden, genau abschreiben lässt. Und weil überhaupt Genauigkeit ein sehr ungenauer Begriff ist für literarische Sätze.
Lüneburg ist Linderstedt, weil Literatur, denke ich, kein Aufschreibedienst für Erlebnisse sein kann, sondern wesentlich eine Erfahrung ist, eine Erfahrung des Schreibens und des Lesens, eine Erfahrung, die mich verwundert, eine Erfahrung, die mich verwirrt und im besten Falle verwandelt. In diesem Sinne kann Literatur auch niemals und ganz anders, als es politisch wieder so vielfach herbeigebrüllt wird, von jenseits des atlantischen Teiches, aber auch hierzulande, Angst haben vor dem Unbekannten, Angst vor dem Fremden.
Lüneburg ist Linderstedt, weil der Stadt sonst ein Teufel auf der Schulter sitzt, der sagt: Halte deine Sätze an der Leine, mein Junge. Aber literarische Sätze sind keine Hunde, die treu an der Wirklichkeit entlangschnuppern, sondern Katzen, autonome Wesen, blaue Wildkatzen, deren Bewegungen unvorhersehbar sind.
Lüneburg ist Linderstedt, weil man hier aus dem Liebesgrund kommen und ins Unionskino gehen kann, dessen Leinwände längst erloschen sind. Weil man sich hier von einem Felsvorsprung namens Nase hinunterstürzen kann zu den melancholischen Karpfen im Kalkbruch, was längst nicht mehr gestattet ist. Weil man hier die Rathausfassade hochklettern und versuchen kann, seine Unschuld neben die große, goldene Uhr zu sprühen. Und weil es hier statt des freundlichen, großzügigen Fachhauses Oskar Mundinus, den schlauchengen Eisenwarenhandel Oskar Spick gibt, mit einem Axtsortiment im Schaufenster, einem Gewehr unter der Kasse und einer rasend kochenden Rache im Kopf des Chefs.
Lüneburg ist Linderstedt, weil Lüneburg wirklich und Linderstedt möglich ist.
Lüneburg ist Linderstedt, weil vielleicht in jedem lichten Lüneburg ein Linderstedt dunkel auf der Lauer liegt.
Kurz und gut, Lüneburg ist Linderstedt, weil Lünestedt und Linderburg zwei Seiten einer Medaille sind. – Herzlichen Dank!
November 2024
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