//

Revolution

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Revolution

Sie nennen es Digitalisierung, sagte Gramner, und das sei ihre neueste technologische Revolution.

Sensationell, murmelte Mahorner abfällig.

Die Revolutionen der sogenannten Moderne ereigneten sich in immer kürzeren Abständen, höhnte Pirelli.

So werde die Zukunft sein, sagte Rostock und lachte brüllend. Er setzte die Flasche an und trank einen Schluck. Ach was, was zum Teufel sorgten sie sich um eine Zukunft, die in weiter Ferne liege.

Digitale Kommunikation sei eine simple Erfindung, sagte Gramner, auf  mathematische Abläufe gegründet, ihre PR-gerechte Präsentation fasziniere kindliche Gemüter, die allem Glitzern und Funkeln ein argloses Vertrauen entgegenbrächten, Fotografieren sei ein Renner. Beschämend sei, sagte Gramner, daß die Erwachsenen diesen Dingen freien Lauf ließen, obwohl doch ihre Aufgabe wäre, die gewachsenen Strukturen der Gemeinschaft zu bewahren und zu erneuern. Sie hätten vergessen, was reifliche Überlegung sei, die Zukunft des Lebendigen rase mittlerweile auf Abgründe zu, jeder gewissenlose Nerd könne einen Flächenbrand entfachen.

Was kannst du tun, sagte Pirelli. Finsternis lege ein goldenes Kostüm an und plaudere honigsüß daher, Fortschritt und Wachstum präsentierten glänzende Fassaden, doch hinterrücks würden sie zündeln, Konflikte schüren und richteten ein Chaos an.

Gramner nickte.

Der Ausguck sah zu Thimbleman hinüber, der es sich auf der Persenning bequem gemacht hatte. Tatsächlich genossen sie diesen Aufenthalt. Solange Eldins Schulter nicht ausgeheilt war, würden die Schaluppen vertäut bleiben, der Wal hatte Ruhe vor seinen Jägern.

Vor wenigen Stunden noch hatten sie am Strand der Ojo de Liebre gelegen und über dämonische Kräfte geredet, die, das hatte der Ausguck erwähnt, darauf zielten, die von Menschen geschaffene Ordnung aufzubrechen, und mehr noch, der Kapitalismus arbeite darauf hin, den Menschen gänzlich von der Erdoberfläche zu tilgen.

Thimbleman hatte ihn  ausgelacht, sie hatten sich ernsthaft zerstritten. Der Ausguck kam anschließend unsanft auf, sein Salto war ihm nicht entspannt und fehlerfrei gelungen.

Digitale Kommunikation, fragte Harmat.

Du kannst Informationen mithilfe digitaler Verschlüsselungen speichern, also in außergewöhnlich dichter Codierung, wodurch der Gesprächsinhalt bzw. die Information in zuvor unbekannter Menge und Geschwindigkeit übertragen werde, erklärte Mahorner.

Der Vorteil wäre, fragte Harmat, doch erhielt keine Antwort.

Wer habe das nötig, fragte Pirelli.

Niemand ziehe  daraus einen Gewinn, konstatierte Gramner, es handele sich um störanfällige Systeme, die viel Energie verbrauchten und bei unvorhergesehenen Belastungen abstürzten, so daß wichtige Daten verloren gingen, überdies könne man auf diese Abläufe aus anderen Systemen heraus zufassen und ihre Funktionen teilweise lahmlegen, die Situation sei unübersichtlich und instabil, das öffne Tür und Tor für kriminelle Aktivitäten, niemand wisse Bescheid, und schon gar nicht sei man auf weiträumige anhaltende Stromausfälle vorbereitet.

Harmat lachte. Erdbeben, Orkane, Überflutungen würden in diesem Universum der Algorithmen nicht existieren.

Der Mensch mühe sich, jegliche Bindung an die Natur zu kappen, sagte Pirelli.

Die technologischen Revolutionen eskalierten bis hin zur Demontage aller zivilisierten Standards.

Und hinterließen was, fragte Bildoon.

Schwer zu sagen, was zurückbleibe, sagte Gramner, und ob überhaupt etwas bleibe, das sei den Verursachern gleichgültig, das sei die Zukunft, doch seit neuestem sähen auch wir mit an, daß der Planet hemmungslos ausgebeutet werde.

Der Goldrausch, sagte Thimbleman.

Ob das rückgängig zu machen sei, fragte der Ausguck.

Was wir erlebten, spottete Rostock, sei die Vertreibung aus dem Paradies, er lachte, das sei, fügte er hinzu, die Bestimmung des Menschen gewesen von Anfang an, die Tragik liege eben darin, daß er aus dem Paradies vertrieben werde, und das Jahrhundert um Jahrhundert, sagte er, bewundernswert sei allein, daß der Mensch die Fähigkeit besitze, sich dieses unsägliche Elend schönzureden, er bezeichne das als Evolution.

So lange hatte Rostock selten geredet.

Da vergehe einem der Spaß, sagte Pirelli.

Er nenne sich Homo sapiens, fragte Harmat.

Er unternehme nichts, fragte LaBelle.

Er sei geschwätzig ohne Ende, sagte Pirelli, und es geschähe nichts.

Die Dämonen säßen ihm im Nacken, sagte Mahorner, und er widersetze sich nicht.

Dämonen, fragte der Ausguck,

Seine Gier, sagte Mahorner.

Der Kapitalismus, sagte Mahorner, halte den Menschen fest in den Klauen.

| WOLF SENFF

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

The Last of Us: Confronting Humanity Through Forced Choices

Nächster Artikel

Forever young

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Ein X oder ein U

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Ein X oder ein U

Wenn nichts sonst, sagte Gramner, so müsse man doch das Ausmaß an Selbsttäuschung schätzen, zu dem der Mensch fähig sei.

Ein Scherz, sagte der Ausguck und lachte lauthals, er war guter Stimmung und hatte Lust, einen Salto zu schlagen.

Harmat blickte verständnislos.

Interessant, sagte LaBelle, beugte sich über die Reling und blickte hinaus auf die Lagune und die Einöde, die sie umgab und sich bis zum Horizont erstreckte, ein trostloser Ort.

Touste hielt die Augen geschlossen und träumte.

Umbrüche

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Umbrüche

Nein, sagte Farb, man verstehe diese Welt nicht mehr, sie sei so rapide verändert worden, und es sei gar nicht sicher, daß der Mensch dem standhalte.

Er tat sich eine Pflaumenschnitte auf.

Tilman gähnte.

Es sei gut, sagte er, daß der Mensch an seinen Gewohnheiten festhalte, unbeirrbar festhalte.

Annika lächelte. Niemand in der Stadt, sagte sie und warf einen liebevollen Blick auf Farb, backe besseren Pflaumenkuchen.

Kollaps

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Kollaps

Haschen nach Wind, sagte Wette, ein Haschen nach Wind.

Farb lachte. Nachdem die Tech-Barone dem Menschen ihre Digitalisierung angedient haben, führen sie nun der Welt vor, was für tolle Kerle sie doch seien, und wirbeln Staub auf.

Große Mauer

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Große Mauer Diese Lokalität sei hervorragend auf Besucher eingerichtet, lobte Ramses und blickte einem Schatten hinterher, der die Konturen Gramners besaß, und daß dies eine einmalige Gelegenheit sei, sagte er, diese Hinterlassenschaften ruhmreicher fernöstlicher Dynastien kennenzulernen. Der Flug, fügte er hinzu, sei überaus angenehm gewesen, auch das ein Wunder, er hätte sich nie träumen lassen, daß der menschliche  Körper sich zum Himmel erhebe, nie im Leben, das sei eine vortrefflich inszenierte Illusion.

Alternativ

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Alternativ

Nein, ganz und gar nicht, null, wehrte Tilman ab, er werde keineswegs darauf verzichten, die Kultur des alten Ägypten heranzuziehen, weshalb, wir müßten lernen, die Gegenwart aus gebührender Distanz wahrzunehmen, Distanz sei hilfreich.

Anne schenkte Tee nach.

Farb griff zu einem Keks.

Sich ausschließlich mit dieser Kultur zu befassen, wandte Farb ein, das werde auf Dauer eintönig.

Die drei Jahrtausende seien in höchst verschiedene Abschnitte unterteilt, in drei Reiche mit jeweils Zwischenzeiten, einer Spätzeit und einigen Jahrzehnten, von denen wir heute wohl sagen würden, das Land habe unter fremder Herrschaft gestanden, es sei besetzt gewesen.

Klingt kompliziert und höchst lebendig.

Interessant, sagte Anne, und ob man daraus lernen könne.