Was würden wir unseren Kindern wünschen, wenn wir einen Wunsch frei hätten? Ein junges Elternpaar meint es besonders gut mit ihrer Neugeborenen. Sie suchen sich eine Fee, die ihrer Tochter etwas ganz Besonderes mit auf den Lebensweg gibt. Aber gut gemeint ist auch in diesem Fall das Gegenteil von gut, überlegt ANDREA WANNER.
Das Problem beginnt damit, dass der Vater ziemliche Schwierigkeiten damit hat, überhaupt eine Fee zu finden. So gerät er statt an die gesuchte, erfahrene Zauberin an eine ganz junge, die zum ersten Mal in ihrem Feenleben ein Baby verzaubert. Sie macht das gar nicht schlecht und schenkt der kleinen Edith die Gabe, Dingen eine Seele zu geben, also x-beliebige Gegenstände zum Leben zu erwecken. Und dann taucht kurz darauf auch noch die eigentlich gesuchte Fee auf, die schon kurz vor der Rente ist. Ihr Vorschlag klingt verlockend: sie würde der Kleinen in der Wiege ewige Kindheit schenken. Und die Eltern stimmen dem fatalerweise zu.
Die erste Gabe erweist sich als schwierig. Von der Mutter über ihre Zauberkraft aufgeklärt, macht Edith die Standuhr lebendig und nennt sie Dingeldonga. Keine gute Idee, denn statt zu schlagen, sagt diese ab da die Zeit an und geht damit allen ziemlich auf den Keks. Der Versuch, sie in den Flur zu verbannen, schlägt fehl, den Dingeldonga kann sich bewegen. Also bitten die Eltern ihre Tochter, von weiteren Beweisen ihrer Zauberkunst Abstand zu nehmen.
Noch unglückseliger ist Wunsch Nummer 2: Mit sieben Jahren hört Edith auf zu wachsen. Während ihre Freundinnen langsam erwachsen werden, bleibt sie das ewige Kind. Und dass das zu großem Frust und zu Traurigkeit führt, kann man sich vorstellen.
Niemand würde erwarten, dass nach hundert Jahren, als Edith endgültig keinen Bock mehr auf dieses Dasein hat, die rettende Idee ausgerechnet von Ikki, einer zum Leben erweckten Zitrone kommt.
Die niederländische Autorin und Illustratorin Catharina Valckx, die uns mit der Wild-West-Geschichte »Pfoten hoch« zum Lachen brachte, zaubert ein Märchen voller Wunder und philosophischem Tiefgang. Was zunächst nach wundervollen Gaben klingt, erweist sich schlicht als nicht alltagstauglich. Dennoch steckt auch noch die hundertjährige Edith voller Optimismus und Lebensfreude. Sie saust mit ihrem Hund und Freund Fussel auf dem Skatebord durch die Gegend, macht sich schick zum Hundertsten mit keinem Diadem im Jahr und versprüht den Charme eines Kindes gepaart mit der Lebenserfahrung einer alten Dame. Valckx fängt diese positive Energie vor allem in ihren zauberhaften Illustrationen ein, die den Gefühlen der Figuren nachspüren und sie Bild um Bild nacherlebbar machen. Nein, nicht zu altern ist trotzdem ein Fluch, kein Segen. Edith ist alles in allem ein einsamer Mensch. Oscar Wilde erzählt von diesem Dilemma des Alternmüssens und dem Wunsch, jung zu bleiben in ›Das Bildnis des Dorian Gray‹, Simone de Beauvoir in ›Alle Menschen sind sterblich‹, Catharina Valckx gelingt jetzt eine Version für junge Leser*innen ab 6 Jahren, voll subtilem Witz und ernstem Hintergrund.
Titelangaben
Catharina Valckx: Edith. Das Mädchen von hundert Jahren
(Edith, la petite fille qui avait cent ans, 2024) Aus dem Französischen von Julia Süßbrich
Frankfurt am Main: Moritz Verlag 2025
88 Seiten, 18 Euro
Kinderbuch ab 6 Jahren
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