Oft sind Klassiker totinterpretiert, und es ist nötig, sie mit frischen Augen neu zu lesen. Reiner Stach gelingt es, in seinen Kommentaren in der neu herausgegebenen Leseausgabe von Franz Kafkas Der Process die Deutungen beiseite zu schieben und den Text sehr klug wieder für sich sprechen zu lassen. Von GEORG PATZER
Manche Anfangssätze sind in die Literaturgeschichte eingegangen, zwei davon sind von Franz Kafka: »Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt« ist der eine, meist ungenau zitierte. Der andere Satz enthält schon fast den ganzen folgenden Roman: »Jemand musste Josef K. verläumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.«
Der Process erschien vor genau hundert Jahren, 1925, ein Jahr nach Kafkas Tod, und er gibt immer noch Rätsel auf. Dabei ist er in einer klaren Sprache geschrieben, die man ohne Vorkenntnisse versteht. Aber die Handlung ist seltsam: Josef K. wird verhaftet, er wird unter Aufsicht gestellt, aber es werden keine konkreten Vorwürfe bekannt. Er versucht sich zu rechtfertigen, sich zu verteidigen, und es findet sogar eine Gerichtsverhandlung statt, aber Josef K. hält dabei eine seltsame Rede, die nichts klarer macht. Der Roman spielt auf Dachböden, in einem ärmlichen Haus, in einer Rumpelkammer seiner Bank, in der Wohnung eines Gerichtsdieners, wo das Gericht tagt und sich gleichzeitig ein Liebespaar vergnügt, in einem Dom und einem Steinbruch.
K. selbst wirkt nicht besonders sympathisch, er hat keine richtigen Beziehungen zu seinen Kollegen oder seiner Zimmernachbarin. Und auch seine Versuche der Verteidigung sind hilflos und durcheinander. Am Ende wird K. mit seinem Einverständnis »wie ein Hund« umgebracht, ohne dass ein Urteil ergangen wäre. An seine »Gurgel legten sich die Hände des einen Herrn, während der andere das Messer ihm ins Herz stiess und zweimal dort drehte. Mit brechenden Augen sah noch K. wie nahe vor seinem Gesicht die Herren Wange an Wange aneinandergelehnt die Entscheidung beobachteten.«
Es gab schnell zwei Interpretationen: Die eine sieht in dem Roman die unerforschliche Maschinerie einer anonymen Bürokratie, die unaufhaltsam über die Menschen hinwegwälzt, von einem Heer von Beamten und Subalternen bedient, die sich nur noch an die Regeln halten, auch wenn sie dem Menschen nicht dienen. Der Mensch gerät unschuldig unter die Räder. Die andere sieht im Process eine religiöse Parabel, die sich auf Kafkas Beschäftigung mit dem Judentum beruft und in der Parabel Vor dem Gesetz ihren Kulminationspunkt sieht. Andere Interpreten gehen biografisch, historisch oder politisch vor.
Einzelkommentare und präzises Nachwort
Zum hundertsten Todestag von Franz Kafka im letzten Jahr ist der erste Band einer Leseausgabe von Der Process erschienen, herausgeben vom maßgeblichen Kafka-Forscher Reiner Stach, der mit einer dreibändigen Biografie Kafkas berühmt geworden ist. In knapp 80 Seiten Einzelkommentaren und einem präzisen Nachwort versucht er, dem Roman und der Prosakunst Kafkas allgemein, das Geheimnis zu lassen.
Stach zeigt vor allem Kafkas geniale narrative Strategie auf, in der er bei aller Klarheit die innere Struktur des Romans verrätselt hat: Der Roman ist allein aus der Perspektive von Josef K. erzählt, der Leser nimmt nur wahr, was K. auch wahrnimmt und vor allem, was nicht. Allerdings streut Kafka in einem »einsinnigen Erzählen« eine Fülle von Hinweisen und Signale ein, die sein Protagonist nicht zu interpretieren versteht. Sorgfältig unter der Oberfläche versteckt, enthüllen sie seine widersprüchliche Persönlichkeit, seine erotische Unersättlichkeit, seine vermischten Signale an die helfenden Frauen und an das Gericht, seinen mal opportunistischen, mal naiven Umgang mit den Boten. Und sein Mitwirken an allem, was die anonyme Behörde mit ihm macht, denn ohne das passiert in diesem Roman nichts.
In seinen Kommentaren erläutert Stach sorgsam die wesentlichen Motive, Begriffe und Erzähltechniken, aber auch wichtige Streichungen und Korrekturen dieses Fragment gebliebenen Romans, deren Kapitelfolge von Kafka nicht festgelegt worden war. Auch das Spiel mit den unterschiedlichen und manchmal gegensätzlichen Ebenen der Wirklichkeit und Wahrnehmung und der Traumwirklichkeit kann so nachvollzogen werden.
Das Schöne an dieser Ausgabe ist, dass man mit Stachs Hilfe, der die komplexe Komposition des Romans deutlich macht, wieder einen frischen Blick auf diesen Roman werfen kann, der durch Überinterpretationen und oft quälerische Schullektüre für viele unlesbar geworden ist.
Titelangaben
Franz Kafka: Der Process
Herausgegeben, kommentiert und mit einem Nachwort von Reiner Stach
Göttingen: Wallstein Verlag 2024
400 Seiten. 36 Euro
| Erwerben Sie diesen Band portofrei bei Osiander
Reinschauen
| Mehr zu Franz Kafka in TITEL kulturmagazin