/

Verkehrt

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Verkehrt

Das könne er nicht ernst meinen, sagte Harmat.

Sei dir sicher, ihm ist nicht nach Witzen zumute, entgegnete Bildoon und legte einen Scheit Holz ins Feuer.

Es gehe um Zukunft, sagte Touste.

Die Zukunft, von der er spreche, liege in weiter Ferne, sagte Rostock und starrte in die Flammen.

Und? Gehe sie uns deshalb nicht an? Crockeye war aufgebracht.

Termoth verdrehe doch die Wirklichkeit, oder etwa nicht, fragte Bildoon.

Die Moderne, ihr Fortschritt, ihr Wachstum, sage Termoth, hätten das Leben ins Abseits manövriert, da gäbe es für Lebewesen keine Zukunft, das sei eine verhängnisvolle Geschichte, und sie beginne jetzt, sage Termoth, sie sollten doch auf die Neunundvierziger sehen, sage er, auf die Dampfschiffahrt, der Planet werde seiner kostbarsten Schätze beraubt.

Das Gespräch stockte.

Der Ausguck schälte sich aus der Dunkelheit und setzte sich neben Thimbleman.

Der Planet werde erbarmungslos geplündert, und das werde unablässig weitergehen, sage Termoth, ohne daß der Mensch bemerkt hätte, was er sich da einbrocke.

Ob er sich neu sortieren müsse, fragte Bildoon.

Der Planet sei längst im Begriff, das selbst zu tun, entgegnete Touste, jedenfalls seien das die Worte von Termoth, und der Mensch, sage er, nehme überhand, seine unersättliche Gier beschädige die Grundfesten des Lebens.

Der Mensch sei ein Irrweg, sagte Crockeye, er beschwöre Unheil herauf.

Sanctus nickte. Termoth zufolge habe der Mensch schützende Barrieren aufgebrochen, der Planet selbst sei gesundheitlich angegriffen, er werde schwächeln, und disruptive Kräfte, die zuvor unauflöslich eingebunden gewesen seien, würden freigesetzt.

Verschwörungstheorien, flüsterte London.

Crockeye wandte sich ab.

Ruhe, zischte Thimbleman.

Eldin faßte nach seiner Schulter.

Touste griff zur Gitarre und schlug einige Akkorde an.

Hilfe! Hilfe!

London erschrak. Was war das gewesen?

Crockeye lachte.

Hilfe! Hilfe!

Nichts von Bedeutung, sagte er, einfach eine Figur, deren Name uns unbekannt sei, sagte er, sie spuke bald hier, bald dort durch Erzählungen, im Nu sei sie verschwunden, sogar am Toten Meer sei sie einmal aufgetaucht, es heißt sie habe dort mit Sergej aus Murmansk Backgammon gespielt, und nein, kein Walfänger, und niemand wisse, woher sie komme und wann sie wieder erscheinen werde, sagte Crockeye, auch jemand wie Roy Orbison sei allgegenwärtig, aber sicher, doch das gehöre nicht hierher.
Geisterhaft, sagte Rostock.

Seltsam, dachte London, wie gehe all das zusammen, und: Unheimlich, sagte er, die Welt da draußen sei aus den Fugen.

Ein Flüchtling, sagte LaBelle, heimatlos, aus der Zukunft geflohen und suche Asyl.
Touste schlug wohlklingende Akkorde an.

LaBelle räusperte sich.

Jetzt etwas zu essen, sagte er, das wäre bekömmlich.

Rostock tat die Flasche beiseite.

Eldin legte einen Scheit Holz ins Feuer.

Der Ozean rauschte sanft und friedlich von fern.

Niemand sprach.

Die Ojo de Liebre war ein angenehmer Ort, sich aufzuhalten, und das erst recht, wenn der Walfang für einige Tage eingestellt blieb.

| WOLF SENFF

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Wenn Ottos Mops kotzt

Nächster Artikel

Neuanfänge

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Moderne

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Moderne

Hungerstreik?

Sie verweigern das Essen.

Wo verweigern sie das Essen?

Drüben im alten Europa.

Auf unserer ›Boston‹ möchte ich mich auch manchmal weigern zu essen.

Du redest Unsinn, Bildoon, tadelte der Ausguck.

Ferne II

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Ferne II

Weshalb sprechen wir ihnen ab, daß sie das Leben genießen?

Sie genießen nicht, Bildoon, es täuscht, die Moderne ist ein Zeitalter im Irrtum.

Absurd, widersprach der Rotschopf, wie soll sie im Irrtum sei, sie handelt nicht anders als wir, unsere 49er beuten die Goldminen aus und feiern ihren Reichtum, was soll daran falsch sein, gut, sie trinken und schlagen über die Stränge, aber wir tun das doch auch.

Nicht auf Scammons Walfänger, sagte Eldin und legte einen Scheit Holz ins Feuer.

Leben

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Leben

Wo stammt das Leben her, von irgendwoher muß es ja kommen, oder ist es bloß einfach da, sonst nichts, unvorstellbar.

Das beschäftigt dich, Tilman?

Wo sein Ursprung liegt und wie das Leben sortiert ist, gewiß, das beschäftigt mich, ob einem Tier mehr davon zuteil wird als einer Pflanze, dem mächtigen Baum mehr als dem stillen Gänseblümchen, auf welche Weise ich daran teilhabe, und blüht das Gänseblümchen auch für mich.

Sonne

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Sonne

Unerklärlich, sagte Farb, aus welchen Gründen eine unscheinbare Begegnung tief im Gedächtnis haften bleibt.

Tilman rückte näher an den Couchtisch und suchte eine entspannende Sitzhaltung.

Anne schenkte Tee ein.

Ein alter Mann am Strand von En Bokek, sagte Farb, ein Greis, hoch in den Siebzigern, die Schwefelquellen südlich von En Gedi seien, hatte der Mann erklärt, so hochprozentig wie sonst nirgends auf dem Planeten, er suche sie zweimal wöchentlich auf, sagte er, er habe viele andere Orte kennengelernt, kein Vergleich, sagte er, nicht daß er lange Reden hielt, er wirkte wortkarg, seine Sätze blieben kurz, die Stimme leise, unaufdringlich, und zusätzlich, sagte er, arbeite das besondere Klima, er kenne keinen Ort, der dem auch nur annähernd gleichkomme, der Mann redete nachdenklich, besonnen, und nein, das würde kein Gespräch, nein.

Der jugendliche Camus

Menschen | Abel Paul Pitous: Mon cher Albert Wird Albert Camus noch gelesen? Die Pest? Camus stand stets im Schatten von Jean Paul Sartre. Oh, sie begründeten die Tradition der schwarzen Rollkragenpullover, dafür sei beiden gedankt, Camus kam leider früh zu Tode. Der hier veröffentlichte Brief fand sich im Nachlass des 2005 verstorbenen Abel Paul Pitou, eines Jugendfreundes von Camus, und wurde 2013 von dessen Sohn zur Veröffentlichung gegeben – die unscheinbarsten Manuskripte erreichen die Welt auf den kompliziertesten Pfaden. Pitous und Camus spielten in diversen Schulmannschaften gemeinsam Fußball, das verleiht dem Text spezielle Würze in diesem Jahr der Fußball-Weltmeisterschaft.