Kirchen, Kathedralen, Dome seien zu Hotspots des Tourismus geworden, sagte Tilman, kein Aufenthalt in Paris ohne Notre Dame, kein Rom-Aufenthalt ohne den Petersdom, absolviert in einer Reisegruppe nebst sachkundiger Führung.
Farb kam aus der Küche und schenkte Tee nach, Yin Zhen, die ersten Oktobertage brachen an, die Temperaturen waren leicht winterlich, doch die Sonne schien, in einem warmen Pullover hätten sie sich beinahe schon auf die Terrasse setzen können.
Anne nahm einen Keks.
Tilman rückte näher an den Couchtisch.
Und, fragte Farb, leben wir nicht in säkularisierten Zeiten, in denen eine Kirche wenig mehr als ein dekoratives Überbleibsel sei. Gewiß, fügte er hinzu, es handle sich um ein imposantes Bauwerk, der Besucher fotografiere ausgiebig, und wer sich in einer Kirche aufhalte, spüre den Abglanz einer atmosphärischen Dichte, die einst als heilig gegolten habe, ihn streife ein Anflug von Ehrfurcht, dem er aber keinen Wert beimesse, geschweige denn daß er sich die Umstände erklären könne, er habe keine Ahnung, er nehme die besondere Situation vermutlich kaum wahr.
Was der langen Rede Sinn sei, fragte Anne.
Die Kathedralen seien jedenfalls nicht als Touristenattraktionen errichtet worden, sagte Tilman, und man spüre noch hier und da ihren ursprünglichen Zweck.
Zum Beispiel daß man andächtig vor einem Gemälde oder einer Skulptur innehalte, fragte Anne.
Oder vor dem Licht, das durch ein Fenster falle, sagte Farb.
Im Alten Ägypten, sagte Tilman, habe man das für die Präsenz der Götter gehalten.
Wo liege der Unterschied, fragte Farb in leicht aufgeregtem Tonfall, weil kaum mehr ein Gespräch geführt wurde, ohne daß Tilman sich auf die Kultur des Alten Ägypten bezog, ja, er kannte den Ausnahmecharakter jener länger als drei Jahrtausende währenden Kultur, unvergleichlich, gewiß, beispiellos, klar, aber irgendwann war auch einmal gut, oder, es existierten andere Themen, die unter den Nägeln brannten.
Wobei, knüpfte Tilman an, diese Präsenz der Götter ungewöhnlich sei bzw. erklärt werden müsse, denn mit meditativer Versenkung habe sie nichts gemein.
Anne schenkte Tee nach.
Farb schwieg und griff zu einem Keks.
Für den Ägypter sei die Gottheit stets gegenwärtig gewesen, auf den Festen eine höchst reale Macht, nicht in Form symbolischer Inszenierung, sondern als spontane Begegnung, emotional aufgeladen, von Furcht und Zittern begleitet, aber auch von Staunen, Jubel und Freude, der Kult zog das Wirken der Götter auf die Erde herab.
Auch die Präsenz im Alltag sei ungewöhnlich, Kultbild und Statue würden nicht als bloße Abbildungen verstanden, sondern wie eine anwesende Gottheit behandelt, von einem Priester geweckt und begrüßt, gereinigt, gesalbt, mit den Speisen des täglichen Opfers versorgt.
Farb runzelte die Stirn.
Das beruhe auf dem Prinzip der sogenannten Einwohnung, erklärte Tilman, also der Vorstellung, daß der Gott in seiner irdischen Repräsentation anwesend sei.
Was immer man davon halte, sagte Anne, diese unmittelbare physische Nähe der Götter sei ein kühner Gedanke.
Interessant, konstatierte Farb, aber er zweifle sehr, daß sich daraus etwas für die Gegenwart gewinnen lasse, und, bei allem Respekt, unter diesen Umständen zu leben, nein, auf keinen Fall, mochte Tilman noch so sehr fasziniert sein, es handelte sich um eine Theokratie und um totalitäre Herrschaft, um einen Gottesstaat.
Überliefert, sagte Anne, seien nur die steinernen Zeugnisse einer elitären Oberschicht, von den alltäglichen Lebensverhältnissen sei wenig bekannt.
Gar so einheitlich, ergänzte Farb, seien die vielen Jahrhunderte nicht verlaufen, es habe Umbrüche gegeben, drei aufeinander folgende Reiche mit langen Zwischenzeiten, auch Jahrzehnte der Fremdherrschaft.
All das ändere, so berechtigt diese Ergänzungen auch seien, nichts am einzigartigen Charakter dieser Kultur, sagte Tilman und lächelte zufrieden, sogar unter der Fremdherrschaft hatte sie Bestand.