Glanz und Leiden

Sachbuch | Tilmann Lahme: Thomas Mann. Ein Leben

Die Neuerscheinungen zu Thomas Mann sind in diesem Jubiläumsjahr kaum zu überschauen. Er ist einer der größten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts und Literaturnobelpreisträger, ein weltweit gefeierter Literaturstar. Tilmann Lahme hat eine neue Biografie Thomas Manns geschrieben und ihr großes Verdienst besteht darin, die bislang unentdeckten oder verschwiegenen Seiten Thomas Manns offenzulegen und uns einen Menschen zu zeigen, der an den Vorurteilen seiner Zeit litt – daran, seine homosexuellen Neigungen nicht ausleben zu können. Von DIETER KALTWASSER

Ein Foto von Thomas MannTilmann Lahme studierte Geschichte, Germanistik und Philosophie in Kiel und in Bern. Er lehrte Literaturwissenschaft und Mediengeschichte an der Universität Lüneburg und ist Autor zahlreicher Veröffentlichungen über die Familie Mann, darunter die Biografie ›Golo Mann‹ (2009), und ›Die Manns. Geschichte einer Familie‹ (2015). Für seine Biografie nutzte er bislang unveröffentlichte Quellen mit unbekannten Tagebuchpassagen und Briefen an Manns Jugendfreund Otto Grautoff.

Thomas Manns Homoerotik war für seine zahlreiche Leserschaft über eine lange Zeit zwar durchaus ein Thema, das aber nur diskret und lediglich am Rande erwähnt wurde. Lahme legt in seiner beeindruckenden Biografie dar, dass Mann beides war, ein liebevoller Ehemann für seine Frau Katia – und zugleich ein Mann, dessen erotisches Verlangen jungen Männern galt. Lahme zeigt seiner Leserschaft hierzu auch zwei lang verschollene Briefe Thomas Manns an seinen Lübecker Jugendfreund und Mitschüler Otto Grautoff, in denen er seine geschlechtliche Orientierung als »wacklig« wiedergibt und erklärt, sich mit der neuesten wissenschaftlichen Literatur zu dieser Frage beschäftigen zu wollen.

Im Alter von 18 Jahren, berichtet Lahme, ‚nach voller körperlicher Entwicklung‘, wie Thomas Mann es nennt, liest der junge Mann also das Buch ›Psychopathia sexualis‹ von Richard von Krafft-Ebing. Darin kommt dieser auch auf das zu sprechen, was er die »Parästhesie der Geschlechtsempfindung« und die »Perversion« nennt. Als »pervers« müsse »jede Äußerung des Geschlechtslebens« bezeichnet werden, die »nicht den Zwecken der Natur« entspreche, also der Fortpflanzung.

Der Psychiater Krafft-Ebing war mit dieser Meinung alles andere als allein. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein wurde die Homosexualität als eine krankhafte sexuelle Abnormalität betrachtet. In Deutschland wird sie erst seit 1994 nicht mehr strafrechtlich verfolgt. Heute hat sie den Fluch vergangener Zeiten verloren; die sexuelle Orientierung eines Menschen spielt in weiten Teilen der Bevölkerung keine Rolle mehr bei seiner persönlichen Einschätzung. Zu Lebzeiten Thomas Manns jedoch spielte sie eine große. Für ihn selbst war Homosexualität mit seinem bürgerlichen Leben nicht vereinbar, das Wort homosexuell verwendete er nie.

Bürgertum und Liebe zum Leben waren für ihn fest miteinander verknüpft, so kann man es schon in seiner Novelle ›Tonio Kröger‹ nachlesen. Seine homoerotischen Neigungen waren ihm Stimulus und Inspiration zugleich. In den Figuren Gustav von Aschenbach in ›Tod in Venedig‹ und Lord Kilmarnock im ›Felix Krull‹ hat er sich und seine Schwärmereien selbst verewigt. Für Tilmann Lahme ist ›Tonio Kröger‹ die erste »wirklich radikal autobiografisch grundierte Erzählung.« Er schreibt: »Mit Tonio Krögers Liebe zu Hans Hansen schafft Thomas Mann die erste offen homoerotisch fühlende Figur in seinem Werk. Thomas Mann macht keinen Hehl daraus, dass diese Jugendliebe seine eigene ist.« Hauptfigur ist ein Schriftsteller, der sich nach dem Leben sehnt, »nach Liebe und Zugehörigkeit, der sich in die Blonden und Blauäugigen, die Einfachen und Nichtintellektuellen verliebt«. Tonio Kröger reist in seine nordische Heimat und nach Dänemark und findet dort einen Weg, Leben und Kunst zu versöhnen. Indem er (so Lahme) »den Gegensatz überwinden und seine kalte Welt des Künstlers wärmen und erhöhen will durch die Liebe zu den »hellen Lebendigen, den Glücklichen, Liebenswürdigen und Gewöhnlichen«.«

Im wahren Leben ist Thomas Mann im Februar 1903, er ist 27 Jahre alt, nach Berlin gereist. Er liest aus ›Tonio Kröger‹ und freut sich über seinen frühen Erfolg als Schriftsteller. Und er küsst ein Mädchen, erfahren wir von seinem Biografen. Aber ist er nicht verliebt in Paul Ehrenberg, einen Studenten und Maler? Ist nicht genau dieser Ehrenberg in der Gestalt des heiß geliebten Hans Hansen in ›Tonio Kröger‹ eingeflossen? Aus Berlin schreibt er nach München einen Brief an Ehrenberg. Vom »Berliner Trubel« schreibt er und »bin auch dabei«. Vom Mädchen und dem Kuss erfährt Ehrenberg nichts.

Als Thomas Mann Katia Pringsheim im Frühjahr 1904 kennenlernte, versuchte er so schnell wie möglich, sich mit ihr zu verloben. Die Hochzeit ließ nicht lange auf sich warten, sie fand ein Jahr später statt. Er wurde stolzer Vater von sechs Kindern. Dazu gehörte auch die herausgehobene Position innerhalb der Gemeinschaft von Eltern und Kindern als klassischer Paterfamilias – den ehrenvollen Spitznamen »Zauberer« inbegriffen. Dass sein ganzes Wesen »auf Ruhm gestellt« war (wie es sein Biograf nennt): Das war es, was seine fragile Existenz zusammenhielt. Sein Lebensmotto lautete: »Durchhalten«.

Ebenfalls dazu gehörte nach 1933 die Position als Stimme der exilierten deutschen Kultur. Thomas Mann fand wie andere Exilanten Zuflucht in den USA. Von dort hielt er seine berühmten Radioansprachen »Deutsche Hörer!«. Zum neuen Heim wurde ihm ab 1942 eine 500-Quadratmeter-Villa in Pacific Palisades, Kalifornien. Vielleicht war es auch dies, was die junge Susan Sontag beeindruckte: Lahmes Biografie enthält auch den bislang nie gedruckten Text »Bei Thomas Mann« der amerikanischen Autorin, Kulturkritikerin und Regisseurin.

Hier zeichnet sich bereits ihr Weg der Selbst-Erfindung ab, der Metamorphose vom Mädchen aus dem amerikanischen Westen zur Symbolfigur der New Yorker Literatur- und Intellektuellenszene. Als Teenager an der North Hollywood High School in Los Angeles liest sie Thomas Manns Roman ›Zauberberg‹ und lädt sich beim berühmten Exilautor zur Teestunde ein. Der Text ist undatiert, dürfte aber kurz nach dem Besuch der damals sechzehnjährigen College-Studentin im Dezember 1949 entstanden sein.

In ihrem autobiographischen Bericht ›Wallfahrt‹, den Sontag vierzig Jahre später im ›New Yorker‹ veröffentlichte, heißt es: »Ich habe nie jemandem von dem Besuch erzählt. Ich habe ihn über all die Jahre geheim gehalten, als müsste ich mich seiner schämen. Als wären zwei andere Leute daran beteiligt gewesen, zwei Phantome, zwei provisorische Wesen, die woanders hin unterwegs waren: ein peinlich berührtes Kind und ein exilierter Gott, der in einem Haus in Pacific Palisades lebte.«

Thomas Mann stirbt am 12 August 1955 im Kantonsspital Zürich im Alter von 80 Jahren. Seine Ehefrau Katia sitzt an seiner Seite.

| DIETER KALTWASSER

Titelangaben
Tilmann Lahme: Thomas Mann – Ein Leben
Mit Susan Sontags nie gedrucktem Essay ›Bei Thomas Mann‹
München: dtv 2025
592 Seiten, 28 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Wie gemalt

Nächster Artikel

Lifestyle

Weitere Artikel der Kategorie »Sachbuch«

Phantomschmerz verfeindeter Völker

Sachbuch | Yfaat Weiss: Verdrängte Nachbarn Über »Israel« und »die Juden« hat hierzulande anscheinend jeder eine Meinung und verkündet sie neuerdings auch immer dröhnender. Inzwischen grassiert eine fatale Paarung von Meinungsstärke und Kenntnisschwäche. Dabei gibt es Informationen zuhauf über die komplexen Hintergründe dessen, was plakativ »Nahostkonflikt« heißt. Zum Beispiel das neue Buch der jüdisch-israelischen Historikerin Yfaat Weiss, Verdrängte Nachbarn: Wadi Salib – Haifas enteignete Erinnerung. Von PIEKE BIERMANN

Allgegenwärtiges Trauma

Kulturbuch | Ronja von Wurmb-Seibel: Ausgerechnet Kabul Die Journalistin Ronja von Wurmb-Seibel ist 26 Jahre alt, als sie sich im Frühjahr 2013 dazu entschließt, nach Kabul zu ziehen. Einem afghanischen Freund erklärt sie ihre Entscheidung so: »Ich liebe meinen Job hier. (…) Ich habe das Gefühl, ständig auf der Suche zu sein. Das mag ich.« Gut, dass sie dem gefolgt ist, denn mit ihren persönlichen Geschichten zeigt sie, wie es wirklich ist, im Krieg zu leben. Von STEFFEN FRIESE

Offene Fragen

Gesellschaft | B.Podruch, S.Podruch, Ch. Tramitz: Dieses schöne Scheißleben Das Jahr 1978 liegt eine Generation zurück. ›Wir Kinder vom Bahnhof Zoo‹ schockierte damals die Öffentlichkeit, in der Verfilmung von 1981 erlebten wir Christiane F. als drogenabhängiges Straßenkind, und im Rückblick lernen wir, was all das mediale Gewese bewirkt – hohe Umsätze. Und darüber hinaus? Von WOLF SENFF

Frisch gezeichnet aus Bangalore

Comic | Sebastian Lörscher: Making Friends in Bangalore Aus allen Winkeln der Welt erhalten wir heutzutage sekundenschnell die merkwürdigsten Selfies von Freunden und Bekannten. Geradezu altmodisch hat sich Sebastian Lörscher einen Monat Zeit gelassen für die »Aufnahmen« und legt ein volles Skizzenbuch aus Indien vor: ›Making Friends in Bangalore‹. Vom Strudel der szenischen Eindrücke ist PIEKE BIERMANN ganz hingerissen.

Der tiefe Blick

Sachbuch | Chris Orwig: Authentische Porträts fotografieren

Ob in diesem Jahr Sonne, Sommer und Urlaub auch wieder dazu reizen, die Kamera mitzunehmen? Chris Orwig nimmt uns mit auf eine spezielle Reise. Der amerikanische Fotograf und Autor mehrerer Bücher behandelt auf 452 Seiten die Porträtfotografie, besser gesagt: Authentische Porträts; sie sind sein spezielles Anliegen. BARBARA WEGMANN hat in dem Buch geblättert.