/

Offene Fragen

Gesellschaft | B.Podruch, S.Podruch, Ch. Tramitz: Dieses schöne Scheißleben

Das Jahr 1978 liegt eine Generation zurück. ›Wir Kinder vom Bahnhof Zoo‹ schockierte damals die Öffentlichkeit, in der Verfilmung von 1981 erlebten wir Christiane F. als drogenabhängiges Straßenkind, und im Rückblick lernen wir, was all das mediale Gewese bewirkt – hohe Umsätze. Und darüber hinaus? Von WOLF SENFF

Dieses schöne ScheißlebenIn ›Wir Kinder vom Bahnhof Zoo‹ wiesen Horst Rieck und Kai Hermann im Zuge von Recherchen über Drogenszene und Beschaffungsprostitution auf ein unentwirrbares Geflecht aus persönlichen und sozialen Problemen, Drogenabhängigkeit, Verrohung, Kriminalität und Prostitution. Das Buch war das erste dieser Art und appellierte an die Empathie eines breiten Publikums. Es war 1980 und 1981 das meistverkaufte Buch in der Bundesrepublik Deutschland; in vielen Schulen wurde es zur Pflichtlektüre.

Im Paradies gestrandet

In ›Dieses schöne Scheißleben‹ steht ebenfalls das Leben von Straßenkindern im Zentrum, und wie seinerzeit Christiane F. fungiert hier Benny als ein Erzähler, der das Geschehen aus seiner Gegenwart heraus kommentiert.

Benny und Bastian sind in den achtziger Jahren in Jena geboren, eineiige Zwillinge, als Vierzehnjährige von zu Hause rausgeworfen, dann folgt der Aufenthalt in Berlin-Zoo: »Was für andere eine verkommene Welt der Gestrandeten bedeutet, war für uns damals das Paradies«.

Freiheit und Verantwortung 1

Alkohol, kurzzeitig Heroin, viel Prügelei, Knastaufenthalt, Benny hat einen kleinen Sohn in Südfrankreich – das ist viel von dem, was der Leser eine »Welt der Gestrandeten« nennen würde, und als Rezensent ist man nicht sicher, ob eine solche Autobiographie heutzutage schockiert, wenngleich die oben mit Christiane F. beschriebenen Probleme unverändert existieren bzw. sich verschärft haben. Der Adressat wäre Politik, doch nationale Politik ist unfähig, andere Akzente zu setzen.

Zugegeben, das ist schwierig. Und dennoch hat man den Eindruck, ein wichtiges zugrunde liegendes Thema ist Verantwortlichkeit, ist eigenverantwortliches Handeln, und die Untätigkeit der Politik ist nur ein Abbild dessen, was uns hier am individuellen Beispiel vorgeführt wird. Die einzige Verpflichtung, die Benny spürt, ist diejenige gegenüber seinem kleinen Sohn, immerhin, und tatsächlich ist es das, was ihn aus der Droge holt.

Ein Meister im Verdrängen

Doch Benny selbst, »Eines möchte ich gleich vorwegnehmen: Ich bin ein Glückskind«, sieht sich auf der Sonnenseite des Lebens. Trotzdem bricht auch für Benny durchaus leidvolle Realität durch – »›Papa, warum bist du ins Gefängnis gekommen?‹ – ›War zur falschen Zeit am falschen Ort‹, antworte ich« –, er nennt sich einen Meister im Verdrängen.

»Wir gehen jetzt auf die einunddreißig zu. Wir haben Dinge getan, auf die wir nicht gerade stolz sein können, trotzdem würden wir die Jahre gegen nichts eintauschen. Bis heute ist der Punk unsere Lebenseinstellung, er hat uns Kraft gegeben, zu überleben.«

Hilfreiche Zwänge?

Nein, unser Mitgefühl wollen sie nicht, sie pfeifen drauf. Sie bestehen darauf, dass sie ihren Lebensweg selbst gewählt hätten. Freie Entscheidung. Basta. Und gut, man kann sich auf den Standpunkt stellen, die Lektüre biete Reality TV zwischen Buchdeckeln, so sei das Leben, die Moden würden wechseln.

Es wäre voreilig, die Lektüre damit für beendet zu erklären. Denn »Dieses schöne Scheißleben« gibt viel Anlass, nachzudenken, zu streiten, sich zu besinnen. Vom Alkohol zum Beispiel befreit ihn der Knastaufenthalt, gezwungenermaßen – ein hilfreicher äußerer Zwang, für den die Gesellschaft aufkommt.

Freiheit und Verantwortung 2

Doch es gibt sie, die andere Seite, die Kehrseite, Schattenseite, und nicht alles ist eitel Sonnenschein. Da steht der prügelnde Stiefvater, ein spießiges Jena-Lobeda, autoritäre Schulpädagogik, der erwähnte Rauswurf aus der Wohnung. Das ist mehr als genug für eine entwurzelte Biographie. Strandgut ist aus dem geordneten Frachtprozess herausgefallen, wird von der Strömung an Land gespült, und falls es jemand findet und für wertvoll hält, wird er es pfleglich behandeln.

Man muss auch darüber reden, dass der Erzähler, also Benny, keinen Anlass sieht, über seinen individuellen Lebenswandel hinaus zu blicken, er nimmt sich nicht als Opfer der Verhältnisse wahr bzw. er sieht durchaus die Weichenstellungen: den »Stief«, den Drogenkonsum, etc., und er weiß um seine eigene Unfähigkeit, sich um den kleinen Sohn zu kümmern – doch er zieht daraus keine Konsequenzen. Erst als er im Gefängnis sitzt, verzichtet er zwangsläufig auf die Droge. Da ruft erneut das Thema Verantwortung, eigenverantwortliches Handeln.

Eine Liebeserklärung?

Es ist auch nicht nachvollziehbar, dass ihm jeglicher Bezug zur gesellschaftlichen Problematik des Drogenkonsums fehlt; über die Gerichtsverhandlung, die zu den drei Jahren Knast führte, erfährt der Leser nichts. Gab’s wirklich gar keine Reue, gar keine Reflexion auf das eigne Handeln? Das hätte schon interessiert, ob da nicht doch etwas hängen blieb.

Und wie, überhaupt, kam es zu diesem Buchprojekt? Sind die Punk-Zwillinge »erwachsen« geworden? Ist’s verlockend, Knete einzufahren? Haben sie »die Seiten gewechselt«? Darüber schweigen sie sich aus, doch man hätt’s gern gewusst.

Benny ist zum Schluss der Handlung einunddreißig und lebt in einem Wolkenkuckucksheim. Erneut kann der Rezensent das lediglich ungläubig zur Kenntnis nehmen und, positiv gewendet, daraus ableiten, dass »Dieses schöne Scheißleben« Anlass zum Nachdenken und zum Streit bietet. Als eine Liebeserklärung an das Leben, wie der Verlag vollmundig ankündigt, mag man es nicht verstehen, im Gegenteil.

| WOLF SENFF

Titelangaben
Benjamin Podruch, Sebastian Podruch, Christiane Tramitz, Dieses schöne Scheißleben
Zürich: orell füssli 2017
224 Seiten, 17,95 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Folkdays…The Magnetic Fields

Nächster Artikel

Über die Entzauberung des Genies

Weitere Artikel der Kategorie »Gesellschaft«

Digitale Seifenblase

Gesellschaft | Roland Reuß: Ende der Hypnose. Vom Netz zum Buch Nein, wir wollen in diesen Zeilen nicht die aktuell angekündigte Publikation von Roland Reuß rezensieren; es handelt sich dabei um einen vergleichsweise kurzen Essay von sechzig Seiten, der auf den Ergebnissen von ›Ende der Hypnose‹ aufbaut, einer Arbeit, die innerhalb kürzester Zeit nun zum vierten Mal aufgelegt wird. Das ist’s, was uns neugierig gemacht hat, und wenn ›Ende der Hypnose‹ den Nerv trifft, spräche nichts dagegen, sich auch dem dieser Tage erscheinenden Essay zuzuwenden. Von WOLF SENFF

Zurückgezogenheit im Rausch

Gesellschaft | Leslie Jamison: Die Klarheit Man kennt die Geschichten über Sucht, bevor man sie ganz gehört hat, denn sie ähneln sich erschreckend. Leslie Jamison, die selbst jahrelang mit dem Verlangen nach Alkohol kämpfte, wagt sich an die Genesung und Heilung als spannende, lebensbejahende, befreiende Alternative. Von MONA KAMPE

Vom Cowboy und der Barbie

Gesellschaft | Georg Seeßlen: Trump! Populismus als Politik Die Klischees der Figur des Donald Trump sind rasch aufgezählt: Rebell gegen das etablierte Politikgeschäft, Selfmademan, Clown, Western-Held, und schließlich der Macho als Revival eines Patriarchats, in dessen mildem Abglanz sich die dazugehörige Frau als ungebildet, strohdumm und absolut ignorant inszeniert. Reicht das nicht schon? Von WOLF SENFF

Aufmerksam studieren!

Sachbuch | Gabriel Zucman: Steueroasen Hoeneß, JVA Landsberg, ist eine Mücke, vergleicht man ihn mit denjenigen, die real die Beträge verschieben. Gut, eine Mücke sticht, sie überträgt leidige Krankheiten. Aber der grandios inszenierte Bouhaha, der um die Steuer-CDs veranstaltet wurde, hat bei den tatsächlich Vermögenden, wenn überhaupt, ein gelangweiltes Schmunzeln verursacht. Von WOLF SENFF

Weltverbessern aus dem Stand

Gesellschaft | Susanne Garsoffsky, Britta Sembach: Die ›Alles ist möglich‹-Lüge Das Leben könnte so schön sein, wenn … Das ist der klassische Seufzer derjenigen, die, von plötzlichen Befindlichkeitsstörungen angefallen, für einen Moment die real existierenden Bedingungen des real existierenden Alltags betrachten und vor lauter Schreck beschließen, die Welt zu verbessern. Aus dem Stand. Weil sich sonst nichts ändert. Darauf hat die Welt gewartet. Gut, dass sie einiges gewöhnt ist, die Welt. Von MAGALI HEISSLER