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Kultur II

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Kultur II

Alles, was recht sei, sagte Farb, aber das halte er doch für weit hergeholt.

Er verstehe nicht genug, um sich ein Urteil zu bilden, sagte Wette, doch ja, er habe Gemälde gesehen, etwa auf einer Ausstellung in Zürich, Museum Riedberg, eindrucksvoll, sicher, aber er sei da auch lieber vorsichtig, nein, er wolle sich nicht aus dem Fenster lehnen.

Farb tat sich eine Pflaumenschnitte auf.

Tilman reichte ihm einen Löffel Schlagsahne.

Farb strich sie langsam und sorgfältig glatt.

Unvergleichlich, heiße es, und daß man gar von einer der wenigen bedeutenden Hinterlassenschaften menschlicher Kultur rede, sagte Farb, das scheine ihm doch alles etwas voreilig.

Malerei nehme im klassischen China unter den Künsten den höchsten Rang ein, erklärte Wette, angeblich offenbare sie Mysterien des Universums, speziell die Landschaftsmalerei, sagte er, sie habe ihre höchste Blüte während der Nördlichen (960-1127) und Südlichen Song (1127-1279) erlebt und – nach dem Einfall der Mongolen – während der Yuan (1266-1367).

Verstehe das, wer will, sagte Farb.

Tilman richtete sich auf. Das Gemälde werde auf hochempfindliches Seidenpapier aufgetragen, sagte er, auf dem nachträgliche Korrekturen nicht möglich seien, es müsse also dem Maler komplett präsent sein und werde in einem Zug aufgetragen, eine Technik des Pinselstrichs, die der europäischen, westlichen Malerei gänzlich fremd sei, auch sei, ausgehend von der Kalligraphie, die Fertigkeit im Handhaben des Pinsels jahrelang trainiert, der Künstler müsse diverse Praktiken des Pinselstrichs beherrschen, bevor er überhaupt zu malen beginne, auch diese Praxis sei im Westen unbekannt, der Pinsel müsse, wie es heiße, mit leerem Handgelenk geführt werden, und der Pinselschwung trage oft einen pittoresken Namen wie ›eingerollte Wolke‹ oder ›Teufelsgesicht‹, außerdem würden die Gemälde üblicherweise nicht in einem Rahmen ausgestellt, sondern es handle sich um Rollbilder, die extra ausgerollt würden, damit man sie betrachte, all das eine fundamental von der westlichen Malerei verschiedene Aufmerksamkeit.

Eine andere Kultur, gänzlich fremd, sagte Wette, und ob wir jemals einen Zugang fänden, sei fragwürdig.

Ein Buch mit sieben Siegeln, sagte Farb.

Man male mit schwarzer Tusche, ergänzte Tilman, und unterscheide sechs Schattierungen, ›Farben‹, es blieben auch leere Flächen, die für Wasser und Nebel stehen können.

Gänzlich fremd, wiederholte Wette.

Annika warf einen Blick nach dem Gohliser Schlößchen.

Farb aß von seiner Pflaumenschnitte.

Sie hatten wie üblich das Teeservice mit dem Drachenmotiv aufgedeckt, rostrot, ich erwähnte es, das Tilman von Beijing mitgebracht hatte, wo er einen Halbmarathon auf der Großen Mauer gelaufen war, natürlich nicht die gesamte Strecke auf der Großen Mauer, man könne dort ja kaum zu dritt neben einander laufen, dafür sei sie zu schmal, bisweilen sei sie gar nicht vollständig befestigt, und links und rechts neben der Mauer drohe nicht selten der Abgrund.

Ob es dennoch möglich sein werde, einen Zugang zu finden, fragte Farb.

Das werde schwierig sein, sagte Tilman, die Landschaftsmalerei beruhe auf einem bunten Bündel von Voraussetzungen, und wer eines dieser Gemälde sehen und verstehen wolle, sollte diese Voraussetzungen mitempfinden können.

Farb lächelte. Das werde Probleme aufwerfen in unseren Zeiten, in welchen sämtliche Abläufe höchst aggressiv vom Diktat der Geschwindigkeit dominiert würden, sagte er, und wo alle Aktivität vor allem darauf ziele, Zeit einzusparen, unsere moderne Kultur, der nichts schnell genug gehen könne, sei für derart aufwändige Prozesse nicht zugänglich, unmöglich, allein das Erstellen der Tusche setze ein hohes Maß an Erfahrung voraus, man könne ja nicht flugs im nächsten Geschäft eine Tube schwarzer Tusche in dieser oder jener Schattierung erwerben.

Nicht bloß Probleme, ergänzte Wette, sondern es sei heutzutage schlicht nicht möglich, die Landschaftsmalerei hinreichend zu verstehen, der Homo sapiens lebe nun einmal in einer anderen Welt, die Kultur des alten China sei ihm fremd, die Zeiten hätten sich gewandelt.

Er könne an Erfahrung gewinnen, sagte Farb, immerhin, das sei ein Anfang, und müsse zuallererst lernen, eine fremde Kultur zu respektieren und gelten zu lassen, ihre Leistungen anzuerkennen und zu schätzen, was, fügte er hinzu, einer westlichen Moderne gut zu Gesicht stünde, die in vielerlei Hinsicht durch ihre koloniale Vergangenheit geprägt und belastet sei.

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