Laß sie

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Laß sie

Wie das ausgehen werde, frage ich mich.

Wette lachte. Das, sagte er, sei absehbar.

Vermutlich katastrophal, sagte Farb.

Absehbar katastrophal, sagte Wette, und nein, wir könnten nichts tun, die Entwicklung sei zu offensichtlich, sie sei unumkehrbar, das liege auf der Hand.

Eine stramm kompromißlose, radikal rechtsgerichtete Politik, sagte Tilman, fortgesetzter Klassenkampf von oben, Mammon regiert.

Farb tat sich eine Pflaumenschnitte auf.

Tilman reichte ihm einen Löffel Schlagsahne.

Annika warf einen Blick auf das Gohliser Schlößchen.

Was wir erleben, sagte Tilman, sei ausgehend von den USA eine rigorose, einseitige Formierung der westlichen Demokratien, und es werde schwierig sein, sich dem zu entziehen; die Wiederaufnahme der Late-Night-Show Jimmie Kimmels in den USA sei zwar ein Teilerfolg für die Demokratie, ändere jedoch nichts an den etablierten Machtverhältnissen.

Die unerträglichen, radikal populistischen Parolen, sagte Wette, zielten darauf, die staatlichen Strukturen soweit irgend möglich auszuhöhlen, die Gerichtsbarkeit parteipolitisch auszurichten, die Vielfalt der Kultur zu reglementieren, und was vom Staat übrig bleibe, sagte er, verstehe sich als Geschäftspartner und suche einträgliche Geschäfte abzuschließen.

Tilman griff zu einem Marmorkeks.

Annika blätterte in ihrem Reisemagazin.

Sie hatten wie üblich das Teeservice mit dem Drachenmotiv aufgedeckt, rostrot, ich erwähnte es, das Tilman von Beijing mitgebracht hatte, wo er einen Halbmarathon auf der Großen Mauer gelaufen war, natürlich nicht die gesamte Strecke auf der Großen Mauer, man könne dort ja kaum zu dritt neben einander laufen, dafür sei sie zu schmal, ich erwähnte es, bisweilen sei sie gar nicht vollständig befestigt, und links und rechts neben der Mauer drohe nicht selten der Abgrund.

Die weiteren Entwicklungen seien absehbar, sagte Wette, und was sich abspiele, wiederholte er, sei ein fortgesetzter Klassenkampf von oben, beispielgebend sei das kaltblütige Vorgehen Israels gegen die Palästinenser, den Genozid in Kauf nehmend, all das mit Billigung seitens der USA.

Recht und Gesetz spielten eine nachgeordnete Rolle, sagte Farb, man könne zurecht von Schurkenstaaten reden, von Autokratien, von Diktaturen, und die Versuche, international demokratische Strukturen zu etablieren – die Vereinten Nationen, den Internationalen Gerichtshof –, würden  obstruiert und bestenfalls nicht beachtet, auch hier wieder angeführt durch die USA, die den Vereinten Nationen finanzielle Zuwendungen entzögen.

Diese Politik des Isolationismus pflege die eigene Macht, sagte Wette, MAGA habe kein Interesse an Staatenbündnissen, die die eigene Machtposition gefährden könnten, sie ziele auf vereinzelte Nationen und bilaterale Abhängigkeiten.

Das Gespräch stockte.

Farb aß von seiner Pflaumenschnitte.

Tilman griff noch einmal zu einem Marmorkeks, er hatte sie seit einigen Wochen vermißt.

Wir reden damit auch über den Dollar als eine Leitwährung, sagte Tilman, die als ein Fundament der Herrschaft gelte, und man dürfe ebenso den Aspekt der Verteilung nicht außer acht lassen, es gehe um die verbliebenen Schätze des Planeten, daher das Interesse der USA an Grönland, aber die Situation sei komplex, sagte er, diese Ebene der Machtkämpfe unter den Nationen und der Klassenkämpfe werde schnell an Bedeutung verlieren, sobald nämlich der Klimawandel existenziell bedrohlich werde, unübersehbar bedrohlich, diese Aussicht sei wenig erfreulich, zumal der Zeitpunkt, daß man hätte wirksam eingreifen können, vorbei sei, längst vorbei, mittlerweile sei die Rede von einer Erwärmung von drei Grad Celsius, niemand komme noch lebend heraus.

Der Planet reagiere auf die räuberischen Eingriffe, auf die gewalttätigen Plünderungen des Menschen, sagte Farb, keine Ausnahmen, sagte er, die Machtspielchen seien Albernheiten auf einer Spielwiese, null, Kindereien, am Ende ohne Sinn und Verstand, und schon gar nicht würden sie den Ablauf der Dinge gestalten, der Mensch hinterlasse einen heruntergewirtschafteten, vermüllten Planeten.

| WOLF SENFF

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Ernsthaft, sagte Tilman, die Ressourcen des Planeten wollen schonend behandelt werden.

Farb blickte auf.

Sie würden knapp, sagte er.

Im Brandenburgischen tobe ein Konflikt um die Nutzung des Grundwassers, das von einem PKW-Hersteller ausgebeutet werde, die dort lebenden Menschen fürchteten extreme Konsequenzen, Wasser sei ein kostbares Gut.

Zurecht, sagte Farb, die natürlichen Vorräte würden über alle Maßen beansprucht, von schonendem Umgang könne keine Rede sein, das Desaster sei unausweichlich, weltweit, sagte er: in Spanien breite sich Steppe aus, in den USA schrumpften die Stauseen, Australien fahre Jahr für Jahr geringere Ernten ein, die Hälfte der Weltbevölkerung sei heute schlechter mit Wasser versorgt als die Bewohner des antiken Rom.

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