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Kartenhaus

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Kartenhaus

Wie ein Kartenhaus also, nein, nicht sicher, sagte Tilman, für einen Kollaps  ließen sich verschiedene Szenarien ausmalen, der Kollaps könne sich hinziehen.

Farb schmunzelte. Da lebe jemand, spottete er, seinen latenten Zynismus aus.

Interessant, sagte Annika und schenkte Tee ein, Yin Zhen, sie hatten das Ming-Service aufgedeckt, rostrot, seit einigen Tagen besaßen sie es auch für drei Personen mit einem lindgrünen Drachen, lieb und teuer, Farb hatte ein Blech Pflaumenkuchen gebacken, für alles war gesorgt, das Wetter meinte es gut, Farb tat sich eine Pflaumenschnitte auf.

Über vieles werde geredet, lang und breit, sagte Tilman und rückte näher zum Tisch, über manches jedoch breite sich Schweigen, sagte er, zum Beispiel seien weltweit rund vierhundert AKW in Betrieb, doch wurde seit Fukushima keine größer Panne gemeldet, oder Frankreich, dort seien im vergangenen September zweiunddreißig von sechsundfünfzig AKW abgeschaltet gewesen, wie könne das sein, die aktiven AKW nutzten Wasser aus Flüssen zur Kühlung und leiteten das erwärmte Wasser in die Flüsse zurück, und nein, schädliche Strahlung sei nicht freigesetzt worden, jedenfalls sei nichts bekannt geworden, sagte er, doch von zukunftsweisender, gar sicherer Technologie könne keine Rede sein, im Gegenteil, auch eine schadlose Lagerung der atomaren Abfälle werde nur von Träumern für möglich gehalten, allen Ernstes, die Etablierung der Nuklearenergie sei ein beispielloses Verbrechen und Ausdruck einer grotesk anthropozentrischen Weltsicht, die massiv in Kultur und Sprache präsent sei – ›Homo sapiens‹, ›Evolution‹, ›künstliche Intelligenz‹ etc.

Er sei neugierig, sagte Farb, was noch von Saporischschja zu erwarten sei, dem leistungsstärksten europäischen Kernkraftwerk, das folglich auch maximalen Schaden verursachen könne und dessen sechs Reaktorblöcke in den Kaltabschaltzustand versetzt worden seien, was immer das im Einzelnen bedeute, sie haben es nicht im Griff.

Seit der Zerstörung des Kachowka-Staudamms im Juni und dem Auslaufen des Stausees, sagte Tilman, sei die Kühlwasserversorgung gefährdet, und nach den Worten des Leiters der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit sei es aufgrund der im Normalbetrieb erforderlichen hohen Kühlleistung, die bislang durch das dem Stausee entnommene Wasser erbracht wurde, »eigentlich ausgeschlossen«, daß das Kraftwerk einmal wieder für die reguläre Stromversorgung genutzt werden könne, sei also jetzt schon eine gigantische Ruine, wie werde man damit umgehen, es herrsche Stillschweigen, man warne vor Aufgeregtheit und vor Hysterie, werde schönreden, besänftigen, maßgeblich sei das Kriegsgeschehen, was immer sonst, sagte Tilman.

Die Öffentlichkeit nehme nicht wahr, sagte Annika, daß die Nukleartechnologie selbst der Schritt zurück in die Steinzeit sei.

Farb tat sich einen Löffel Sahne auf und strich sie sorgfältig glatt.

Tilman griff zu einem Vanillekipferl, deren Geschmack hatte seit einigen Wochen nachgelassen, Vanille wurde auf den Märkten zu höheren Preisen gehandelt.

Steinzeit, sagte er, das sei kurz gegriffen und nahezu schmeichelhaft, sagte er, wenn man die realen Abläufe bedenke, der Planet stehe in Flammen.

Annika blickte hinüber zum Gohliser Schlößchen, das unter der Sonne glänzte.

Farb aß ein Stück von seiner Pflaumenschnitte.

In dieser ersten Phase des kollabierenden Kapitalismus, erklärte Tilman, seien die Eliten eifrig bemüht, ihr Schäfchen ins Trockene zu bringen, davon überzeugt, daß es ihnen gelingen werde, sie tanzten um das Goldene Kalb und nähmen, geblendet durch die eigene Propaganda von Wachstum und Fortschritt, den Ernst der Lage nicht wahr.

Und wer nicht dazugehöre, fragte Farb.

Den treffe es früher, bereits jetzt seien rund hundertzehn Millionen Menschen auf der Flucht, man lese täglich von regionalen Katastrophen, seien es Feuersbrünste, Dürren, Überflutungen, Erdrutsche, schmelzende Gletscher, was immer sonst, jüngst ein Erdbeben im westlichen Frankreich, wenig später ein schweres Beben in Marokko, die Flutwelle in Libyen, dazu die schleichende Vergiftung der Luft, die wir atmen, es nimmt kein Ende, die Verschmutzung des Wassers, das wir trinken, es nimmt kein Ende, der Müll in den Meeren, die Übersäuerung des Meerwassers, die Überdüngung der Böden, das Sterben der Arten, nein, Tilman lehnte sich erschöpft zurück, es klinge wie eine Melodie des Jammers und Wehklagens, der Mensch habe sich zu lange in einer Traumwelt eingerichtet, die Augen fest verschlossen vor der Wirklichkeit, und so seien nun einmal die Tatsachen.

Der Planet sei geplündert und heruntergewirtschaftet, sagte Annika, er werde Zeit benötigen, bis er erneut eine Heimstatt vielfältigen Lebens sei.

Auch Zeit sei eine anthropozentrische Sichtweise, ergänzte Farb, für den Planeten sei Zeit belanglos, der Planet zähle nicht und messe nicht, er kenne keine Uhren.

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