//

Moderne

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Moderne

Hungerstreik?

Sie verweigern das Essen.

Wo verweigern sie das Essen?

Drüben im alten Europa.

Auf unserer ›Boston‹ möchte ich mich auch manchmal weigern zu essen.

Du redest Unsinn, Bildoon, tadelte der Ausguck.

Es ist ihnen ernst, sagte Gramner, sie protestieren gegen das Nichtstun, was den Klimawandel angeht.

Das verstehe, wer will, sagte Bildoon.

Es herrschen andere Zeiten, sagte Crockeye, das Klima steht vor dem Kollaps.

Zu jener Zeit sind fast zwei Jahrhunderte nach uns vergangen, erklärte Gramner, der Mensch hat die Schätze des Planeten geplündert, die Rückstände vergiften die Luft, das Wasser und die Böden.

Ob wir damit nichts zu tun hätten, fragte Harmat.

Oh doch! Rostock lachte. Unsere Goldgräberheere aus aller Herren Länder sind der Anfang, sieh nur ihre unersättliche Gier und das Chaos, das sie anrichten, die herrschende Gesetzlosigkeit.

Eldin faßte sich an die Schulter, sie war nicht ausgeheilt, es würde einige Zeit vergehen, bevor sie wieder dem Grauwal in der Lagune nachsetzen könnten, er legte einen Scheit Holz ins Feuer.

Und?, fragte Bildoon: Was hat das mit dem Klima zu tun? Ich fühle mich wohl in der Ojo de Liebre, sagte er, die Temperaturen sind gut zu ertragen, die Fangpause darf gern dauern.

Die Flammen schlugen hoch, sie flackerten und tänzelten, Thimbleman starrte gebannt ins Feuer.

Der Ausguck stand auf, verschwand in der Nacht und schlug einen Salto.

Weshalb sieben junge Leute in Berlin seit über drei Wochen nichts essen würden, sagte Bildoon, das verstehe er immer noch nicht.

Die Dinge seien eben kompliziert, sagte Crockeye.

Was sie damit erreichen wollten, fragte Harmat.

Sie verlangten nach einem öffentlichen Gespräch mit denen, die für das Amt des Bundeskanzlers kandidierten, sagte Gramner, denn sie träten nicht hinreichend dafür ein, den Planeten von destruktiven Aktivitäten des Menschen zu verschonen.

Unsere Goldgräber seien der Anfang, spottete Rostock.

Sie plündern Schätze des Planeten, sagte London.

Wir sollten uns an die eigene Nase fassen, wandte LaBelle ein.

Eine Pause trat ein.

Eldin schlug die Stirn in Falten.

Thimbleman legte einen Scheit Holz ins Feuer.

Es werde spät, gab Crockeye zu bedenken.

Der Ausguck schälte sich aus der Dunkelheit und setzte sich neben Thimbleman.

Der Zwilling trank einen Schluck.

Was das heißen solle, daß sich das Klima verändere, fragte er, das Klima ändere sich ständig.

Das Wetter ändere sich, sagte Gramner, doch das Klima bleibe allgemein eher stabil, sagte er, hier in der Ojo de Liebre zum Beispiel sei das Klima subtropisch warm, die Sonora sei eine Wüste.

Und diese Ordnung kollabiere, fragte Bildoon.

Exakt, sagte Gramner.

Die Rhythmen der Jahreszeiten würden gebrochen, ergänzte Crockeye, die Ernteerträge ließen nach, und weit mehr, die Strömungen der Meere schwächelten, die Bewegungen der Winde nähmen zu und verlagerten sich, die Eismassen an den Polen würden erwärmt und schmölzen, die Gefahren für alles Lebendige seien immens.

Bildoon erschrak.

Ob das die Schuld des Menschen sei, fragte er.

Er habe den Planeten geplündert und großen Schaden angerichtet, sagte Gramner, er hinterlasse überall seine Rückstände, die Ozeane würden übersäuert, die Katastrophe sei kaum aufzuhalten, die verantwortlichen Männer und Frauen in der Politik hätten längst regulierend eingreifen müssen, um den Planeten weiterhin bewohnbar zu erhalten.

Deshalb der Hungerstreik, fragte Bildoon, er solle die Politik an ihre Verpflichtungen erinnern.

Deswegen der Hungerstreik, bestätigte Gramner.

Aus reiner Verzweiflung, sagte Crockeye.

| WOLF SENFF

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Heißer Wettlauf auf kaltem Eis

Nächster Artikel

Überlebenstipps

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Leben

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Leben

Zufrieden, fragte er, ob er mit seinem Leben zufrieden sei, wolle sie wissen, weshalb.

Wie gereizt er reagiere, dachte sie, auf eine harmlose Frage, ungewöhnlich, dachte sie, er sei doch nicht cholerisch, sagte erst einmal nichts und schenkte Tee nach, Yin Zhen.

Er betrachtete das Service, den lindgrünen Drachen, er hatte es im vergangenen Jahr aus Beijing mitgebracht, ein Geschenk.

Die Sonne spendete wohltuende Wärme an diesem herbstlichen Nachmittag, sie hingen ihren Gedanken nach.

Verwirrung

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Verwirrung

Die allgemeine Konfusion verdichte sich, nicht wahr, man müsse sich eine gehörige Portion Argwohn bewahren, sagte Tilman und  griff nach einem Vanillekipferl.

Farb schenkte Tee ein.

Der Planet sei heruntergewirtschaftet, die Dinge würden unaufhaltsam bröckeln, sagte er, der Status quo werde allerorten unzureichend oder falsch erklärt, und niemand wundere sich noch über ungewöhnliche Perspektiven.

Koordinaten einer Kindheit

Kurzprosa | Paul Auster: Bericht aus dem Inneren Als erfolgreicher Schriftsteller, Übersetzer, Essayist und Regisseur blickt Paul Auster zurück auf seine frühen Jahre. Wann hat er sich erstmals als eigenständiger Mensch gefühlt? Als Amerikaner? Als werdender Autor? Sein Bericht aus dem Inneren legt offen, wie aus einem fantasievollen, bilderhungrigen kleinen Jungen ein Mann werden konnte, der täglich mehrere Stunden an einem Schreibtisch zubringt, »mit nichts anderem im Sinne, als das Innere seines Schädels zu erforschen«. Von INGEBORG JAISER

Landt in Sicht!

Kurzprosa | Jürgen Landt: Letzter Stock im Feuer In gewohnter Art und Weise: gerade heraus, nackt und ungeschminkt wie die Wirklichkeit bewältigt Jürgen Landt in seinem neuen Buch Letzter Stock im Feuer den Irrsinn des Alltags, des menschlichen Lebens und Erlebens. Der Zeitbogen des Erzählten spannt sich dabei über die letzten dreißig, vierzig Jahre und beginnt mitten in der DDR. Von RÜDIGER SASS

Am Ende alles gut

Roman | Helga Schubert: Vom Aufstehen

Helga Schubert ist eine deutsche Schriftstellerin und Psychologin. In den 29 autobiographischen Erzählungen des Bandes Vom Aufstehen zieht sie ein breit angelegtes Fazit ihres 80-jährigen Lebens: Sie berichtet darin persönliche Erinnerungen an ihre Großeltern und Eltern ebenso wie Erlebnisse aus ihrer Zeit als Schriftstellerin in der DDR oder aus der Zeit der Wende, in der sie sich in der Kirche engagierte. Von FLORIAN BIRNMEYER