Wenn man schon einmal Bücher, Reportagen oder Dokumentationen über Amundsen, Scott und Shackleton, die Expeditionen zu den Polen vor über 100 Jahren gelesen hat, dann, salopp gesagt, reißt einen dieses Buch nicht mehr unbedingt vom Hocker. Aber: es ist das Porträt eines Mannes, der bei drei Expeditionen zum Südpol mit dabei war, der viel erreicht, geleistet und erlitten hat und dennoch immer eine Hintergrundfigur blieb. Schon allein diese persönliche Perspektive lohnt die Lektüre, meint BARBARA WEGMANN.
Thomas Crean wird 1877 in Irland geboren, neun Geschwister hat er, die Familie ist arm, leidet unter den Folgen der Hungersnot. Mit 16 geht er zur Royal Navy, und stößt nach mehreren Ausbildungsschritten 1901 zur Besatzung der Discovery-Expedition. Crean ist vom Pol-Fieber infiziert. Die Expeditionen sollen seinem Leben »einen Sinn und eine Richtung« geben. Auszeichnungen erhält er, gelobt wird er es bei Freunden und Vorgesetzten. »Ein ausgezeichneter Mann, groß gewachsen und an den Duke von Wellington erinnernd. Bei allen beliebt.«
»Der Neujahrsmorgen begann mit gutem Wetter und ließ mich an die Lieben daheim denken, die gut 25.000 Kilometer entfernt sind. Wir befinden uns so weit im Süden, wie seit einem Jahrhundert kein Schiff mehr und fernab jeglicher Zivilisation. Wann wir zurückkehren, steht in den Sternen. Hoffen wir das Beste.«
Dies allerdings ist kein Zitat aus einem Brief oder Tagebuch, das Crean schrieb, es ist die Beschreibung des Schiffzimmermanns Duncan. Und hier beginnt eines der Probleme des Buches: ja, es ist eine sehr fleißige und umfangreiche, fast penible Daten- und Detailsammlung zur Person des Crean, zu seinem Charakter, seinen Plänen und Absichten, aber es gibt wenige wirkliche Quellen. Der eine hat gehört, was der Andere sagte. Da sind überlieferte Briefe der Kameraden, Tagebücher; Aufzeichnungen werden gedeutet, es werden Bezüge hergestellt, Vieles erscheint logisch, Vieles sind Mutmaßungen.
Crean ist Teil der Crew, also trifft auf ihn natürlich all das meist auch zu, wovon seine Kameraden berichten. Er selbst ist ein bescheidener, zurückhaltender, liebenswerter junger Mann, der von allen als sehr sympathisch und freundlich beschrieben wird. Gut gelaunt soll er stets gewesen sein, verlässlich, Pfeife hat er geraucht. Er wurde für Scott fast zum Partner während der Expedition, hätte da nicht die strenge britische Hierarchie-Herrschaft das Regiment geführt. Fotos gibt es nur sehr wenige.
Das zweite Problem: Michael Smith, Brite und Journalist, kennt sich zwar in Materie und Geschichte bestens aus, aber: Leider schreibt er sehr trocken, sehr detailliert, sehr sezierend, und derart ins Detail gehend, dass man sich an vielen Stellen einfach verliert und dann den alten Faden sucht. Das, was doch eigentlich eine unendlich faszinierende Geschichte und, verbunden mit dem Porträt eines Einzelnen, eine fesselnde Lebensgeschichte sein müsste, wird zur fast klinisch sterilen und trockenen Angelegenheit. Stellenweise sinkt das Lesevergnügen auf antarktische Temperaturen.
Durchhalten ist aber angesagt, denn: Ein wenig gibt Smiths Erzählweise dann doch schließlich der Begeisterung, den packenden Schilderungen Raum, lässt die Figur des Crean doch runder und zunehmend plastischer werden. Höhepunkt ist sicherlich Creans »spektakulärer Alleinmarsch durch die Eiswüste«, auf dem er sein und das Leben seiner Kameraden rettet. Zu Highlights während der Lektüre werden jene Erkundungen im Eis, der Aufbau der Lager, der Transport aller benötigten Dinge, die unendlichen Strapazen, die Gefahren für die oft »blutigen Anfänger«, die unvorstellbaren Temperaturen um Minus 50 Grad, die Not, der Hunger, das Eingeschlossensein im Eis, das Fernsein von jeglicher Zivilisation. Und immer ist da der Heißhunger aufs Ziel: als Erster etwas erreichen, als Erster am Südpol stehen.
Creans Fieber für Expeditionen und weite Reisen ebbt aber ab, er lehnt weitere Angebote für Expeditionen ab, auch Shackleton kann ihn nicht mehr überzeugen. Er wird stattdessen Familienvater und eröffnet 1927 einen Pub. Nie gab er ein Interview über seine Erlebnisse, schrieb ein Buch, oder erzählte an der Theke von seinen dramatischen Erlebnissen. »Sein Ehrgeiz war nach drei Expeditionen zum Südpol befriedigt. In dieser Zeit hatte er mehr erlebt und erlitten, als sich ein Normalsterblicher auch nur vorstellen konnte, und nun beschränkte sich sein Streben darauf, ein Leben in Ruhe und Frieden zu führen.«
Das wirklich Schöne an dem Buch: Über all jene bekannten Forscher, Pol-Eroberer und waghalsigen Entdecker gibt es genug Lektüre. Hier, wenn eben auch in Teilen etwas zu sachlich, zu ausschweifend, aber doch das spannende Porträt eines Mannes, der zu den Kleinen an Bord gehörte und doch ein ganz Großer war.
Titelangaben
Michael Smith: Der stille Held
Tom Crean. Überlebender der Antarktis
Hamburg: Mare Verlag 2021
464 Seiten, 26, 00 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander
Reinschauen
| Leseprobe