Menschen | Niels Birbaumer: Dein Gehirn weiss mehr, als du denkst
Neurologische Erkrankungen müssen kein unumstößlicher Schicksalsschlag bleiben. Auch medikamentöse Behandlungen sind nicht die einzige oder gar beste Option. Der renommierte Hirnforscher Niels Birbaumer stellt in ›Dein Gehirn weiss mehr, als du denkst‹ eine Reihe erstaunlicher Erkenntnisse und Erfolge aus Forschung und Praxis vor. Von INGEBORG JAISER
Kann aus einem Psychopathen niemals ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft werden? Bleibt ein Alkoholiker für immer ein Trinker? Kann von einem Locked-in-Patienten keinerlei Regung mehr erwartet werden? Sind Ängste und Depressionen am ehesten mit Pillen in den Griff zu bekommen? Ist ADS zwingend medikamentös zu behandeln? Können komplett bewegungsunfähige Menschen noch Glück empfinden?
Neuroplastizität
Viele vermeintlich unabänderliche Zustände und Erkrankungen lassen sich von den Betroffenen selbst kontrollieren und beeinflussen, sagt Niels Birbaumer und behauptet: ›Dein Gehirn weiss mehr, als du denkst‹. Von wenigen genetischen Anlagen abgesehen, werden wir vielmehr von unserem Denken und Verhalten bestimmt. Das Gehirn verfügt über ungeahnte Potentiale und ist lebenslang formbar. Neuroplastizität heißt das Stichwort.
Als bestes Beispiel für diese These stellt Niels Birbaumer eingangs sein eigenes Leben vor: einst gewalttätiger, randalierender, Autos knackender Anführer einer Wiener Jugendbande – heute Leiter des Instituts für medizinische Psychologie und Verhaltensneurobiologie an der Universität Tübingen und Träger der Helmholtz-Medaille. Als eine genuine »Forscherpersönlichkeit« würde sich Birbaumer selbst nie gesehen haben. Denn vermeintliche Charaktereigenschaften sind nicht fix festgeschrieben. »Unser Gehirn prüft permanent, ob unsere Aktionen den gewünschten Effekt haben, ob sie uns Gewinn bringen (Anerkennung, Erfolg, Reichtum, Prestige, Liebe) und wenn dem so ist, werden sie wiederholt; und wenn nicht, dann werden sie beizeiten abgestellt.«
Kraft der Gedanken
Das Bestreben des Gehirns, Effekte zu erzielen, macht sich Birbaumer mit den Methoden des Neurofeedbacks und des Brain-Machine-Interfaces (BMI) zunutze. In seinem Buch stellt er beeindruckende Fälle und Erfolge vor. Den völlig bewegungsunfähigen Locked-in-Patienten Hans-Peter Salzmann, der allein mit der Kraft seiner Gedanken einen Brief schreiben konnte. Den Schauspieler Peer Augustinski, der nach seinem Schlaganfall und einer kompletten Lähmung der linken Hand wieder auf die Bühne zurückgekehrt ist (sinnigerweise mit dem Stück »Alles auf Krankenschein«). Aber auch Epileptiker, die mittels Selbstkontrolle ihre Anfälle einzudämmen lernen und junge ADS-Patienten, die durch Stimulation ihres Gehirnes vermehrte Konzentrationsfähigkeit erzielen. Auch bei Parkinson und Demenz erscheint die Arbeit mit dem Brain-Machine-Interface eine aussichtsreiche Alternative zu risikoreichen Medikamenten zu sein.
Brutale Konfrontation
In seinem populärwissenschaftlichen Buch stellt Birbaumer gut nachvollziehbar und äußerst spannungsreich eine Reihe erstaunlicher Erkenntnisse aus Forschung und Praxis vor. Mit seinem Hang zu unkonventionellen Methoden scheut er auch nicht davor zurück, während einer Konfrontationstheorie Patienten an sich zu ketten und gemeinsam waghalsige Verkehrsmanöver oder das Wühlen in Hundekot zu überstehen (selbstverständlich nur mit Einverständnis der Betroffenen). Das mag dem Leser zuweilen befremdlich erscheinen, doch vielleicht auch die Plastizität seines eigenen Gehirns beflügeln? Auf jeden Fall erhellend und bewegend ist der Exkurs zu Sinn und Unsinn von Patientenverfügungen (sind sie doch meistens im Zustand der Unkenntnis verfasst) oder das aufschlussreiche Kapitel über die Erklärung von Süchten (nicht zu erwartende Entzugserscheinungen treiben voran, sondern das Hungern des Gehirns nach Effekten).
Auch wenn Birbaumers Buch streckenweise wie eine überzeugend vorgetragene Werbemaßnahme für das von ihm eingesetzte Brain-Machine-Interface wirkt, bietet es doch zahlreiche Einsichten in die Funktionsweise unseres Gehirns und noch mehr Anregungen zum Umdenken. Mögen wir diesem kreativen, unkonventionellen, unerschrockenen Forscher und seinem Team noch bessere Förderungsmöglichkeiten wünschen. Es gibt noch viel zu entdecken unter unserer Schädeldecke.
Titelangaben
Niels Birbaumer: Dein Gehirn weiss mehr, als du denkst. Neueste Erkenntnisse aus der Hirnforschung
Berlin: Ullstein 2014
269 Seiten. 19,99 Euro