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Zwei Killer auf einen Streich

Roman | Stephen King: Kein Zurück

Kaum hat Privatdetektivin Holly Gibney ein vollkommen durchgeknalltes Professoren-Ehepaar unter Lebensgefahr zur Strecke gebracht – Holly (2023) –, wartet schon der nächste Fall auf die Frau, die ihrem Erfinder Stephen King in letzter Zeit immer mehr ans Herz zu wachsen scheint. Diesmal ruft ein juristisches Fehlurteil, das einen Mann für eine Tat, die er nicht begangen hat, ins Gefängnis schickt und dort umkommen lässt, einen Rächer auf den Plan. Trig, wie der sich von der ersten Seite an nennt, hat sich vorgenommen, 12 Unschuldige anstelle der 12 Geschworenen, deren Urteilsspruch das Leben eines Unschuldigen besiegelte, und jenen Staatsanwalt, der um der eigenen Karriere willen Beweisstücke unterdrückte und deshalb in Trigs Augen der Hauptschuldige ist, zu töten. Und als er loslegt, geschieht das in einem solchen Tempo, dass die Polizei kaum hinterherkommt. Aber Detective Izzy Jaynes hat ja noch ihre neue Freundin Holly Gibney. Und obwohl die gerade als Personenschützerin für eine prominente Feministin unterwegs ist, kann sie die Chance, sich an der Jagd auf einen gefährlichen Serienmörder zu beteiligen, nicht ausschlagen. Von DIETMAR JACOBSEN

Holly Gibney liebt Herausforderungen. Dass die gelegentlich nicht ganz ungefährlich sind, hat sie bereits mehrmals schmerzvoll erfahren müssen. Aber die Lust am Rätselraten führt sie ein ums andere Mal auf dünnes Eis. Diesmal bittet eine neue Freundin, die sie bei ihrem letzten Fall aus den Händen eines durchgedrehten Professorenehepaars befreit hat, um ihre Unterstützung. Denn Isabelle »Izzy« Jaynes Ermittlungen gegen einen Serienmörder kommen nicht vom Fleck.

Scheinbar wahllos tötet der Mann Menschen, die ihm zufällig über den Weg laufen. Die Zettel, die die Polizei anschließend in den Händen der Leichen findet, deuten darauf hin, dass sich der Killer auf einem äußerst merkwürdigen Rachefeldzug wähnt. Denn auf ihnen finden sich die Namen von Geschworenen, die zwei Jahre zuvor einen Unschuldigen durch ihr Urteil ins Gefängnis schickten. Dort hat der Mann nicht lange überlebt. Und nun müssen, der verqueren Logik des psychopathischen Mörders zufolge, Unschuldige mit ihrem Leben stellvertretend dafür einstehen, dass ein Unschuldiger ungerechtfertigt sterben musste.

Rache für den Tod eines unschuldig Verurteilten

Natürlich reizt es Holly, sich gemeinsam mit ihrer Freundin Izzy auf Mörderjagd zu begeben. Zur gleichen Zeit wird die »kleine Frau mit dem ergrauenden Haar«, die die Detektivagentur »Finders Keepers« inzwischen ohne einen Partner betreibt, von der landesweit ebenso bekannten wie von fundamentalistischen Abtreibungsgegnern abgrundtief gehassten Feministin Kate McKay als Personenschützerin angeheuert. Die tourt gerade mit einer Vortragsserie durch das Land, füllt Säle und Hallen und stellt sich unerschrocken all jenen entgegen, denen ihr offenes Eintreten für Schwangerschaftsabbrüche gegen den Strich geht. Und weil sich einer  ihrer vielen Gegner offensichtlich vorgenommen hat, das Problem, das vor allem dubiose Kirchen und bigotte Bibelkreise mit der feministischen Aktivistin haben, final zu lösen, hat sich McKay nach dem zweiten gescheiterten Anschlag auf ihr Leben – und auf den Rat ihrer ebenso jungen wie unerfahrenen Assistentin Corrie Anderson hin – entschlossen, den künftigen Schutz ihrer Person in professionelle Hände zu legen. Holly, übernehmen Sie!

Kein Zurück ist – und das hätte von Stephen King wohl auch niemand erwartet – alles andere als ein Rätselkrimi. Den einen Täter lernen Leserinnen und Leser bereits auf der ersten Seite des mit knapp über 600 Seiten eine mittlere Stephen-King-Länge besitzenden Romans kennen. Der andere kommt kurz darauf hinzu. Auch dass sich beider Wege irgendwann im Verlaufe der Geschichte kreuzen werden, ahnt man früh. Wenn es dann im Finale des Buches mit einiger Wucht geschieht, ist man deshalb weniger überrascht denn besorgt um jene Figuren, mit denen der »Stellvertretermörder« seinem Plan einen teuflischen Höhepunkt bescheren will. Dass auch Holly Gibney bei diesem Showdown wieder einmal um ihr Leben zu kämpfen hat, versteht sich dabei fast von selbst.

Jagd auf eine Feministin

Sieben Mal hat Stephen King Holly Gibney in seinen Büchern seit 2014 schon auftreten lassen – in den letzten beiden Romanen als zentrale Gestalt, davor eher am Rande, aber immer einprägsam –, und jedes Mal brachte diese sympathische Figur ihr interessantes persönliches Umfeld mit. Auch diesmal ist das nicht anders. Vor allem sind natürlich wieder die Geschwister Robinson, Barbara und Jerome, sie Lyrikerin, er Romanautor, dabei. Das sind Menschen, die sich für Holly bedenkenlos in jede Gefahr stürzen und für die Kings Heldin fast mütterliche Gefühle hat, die sie um jeden Preis schützen und vor sämtlichem Unheil bewahren will.

Dass sich Barbara, deren erster Gedichtband Gesichter ändern sich inzwischen zu einem für sie ganz unerwartetem Erfolg geworden ist, plötzlich im Fokus einer der legendärsten Soul-Diven des Landes befindet, die gerade ihre Comeback-Tour plant und sich in den Kopf gesetzt hat, das Titelgedicht des Bandes nicht nur zu vertonen, sondern auch gemeinsam mit der jungen Autorin als Teil ihrer Background-Gruppe zu singen, ist eine jener Nebengeschichten, die man am liebsten als separaten Text lesen würde. So freilich darf man daraus schließen, dass dem jetzt 79-jährigen Stephen King, wenn er es sich leisten kann, derartige Erzählperlen in Nebenhandlungssträngen unterzubringen, die Ideen für neue Bücher noch lange nicht ausgehen werden.

Blutiges Finale vor Hollys Haustür

Dass Kein Zurück nicht zuletzt auch ein politischer Roman ist, mit dem sich King ohne Wenn und Aber auf die Seite all jener seiner Landsleute stellt, die sich vom gegenwärtigen Präsidenten der USA und der von seiner Administration vertretenen Sicht auf den zukünftigen Kurs des Landes abgestoßen fühlen, wird übrigens während der Lektüre mehr als deutlich. Neu ist es nicht, denn bereits der Vorgängerband Holly, angesiedelt während der Corona-Pandemie – Kings zentrale Figur trägt inzwischen immer noch, wenn sie unter vielen Menschen weilen muss, Maske und ist nach dem Covid-Tod ihrer Mutter »bis zum Gehtnichtmehr geimpft« –, hatte in Sachen »USA today« nicht mit vernichtenden Urteilen gegeizt. Mit der Frauenrechtlerin Kate McKay hat sich der Autor nun eine Figur erfunden, der er an mehreren Stellen in den Mund legen kann, was er selbst heute über seine Heimat denkt: »Das hier ist nicht mehr das Land, in dem ich aufgewachsen bin, ich komme mir allmählich wie in einem Gruselkabinett vor.«

Zum Finale geht es dann nach Buckeye City, Hollys Heimatstadt. Da treffen sie dann alle noch einmal aufeinander: Kate McKay, die manchmal ein wenig zu fanatisch wirkende Feministin und Abtreibungsbefürworterin, ihre gelegentlich etwas naiv wirkende, aber unerschrocken ihr Leben riskierende Assistentin Corrie Anderson, Betty Brady, die »Frau mit der vollen, rauchigen Stimme«, die sich den Künstlernamen »Sista Bessie« gegeben hat und, wie sich herausstellt, zur Not auch einen Revolver handhaben kann, Holly, ihre Freundin Izzy, die Robinson-Geschwister und natürlich die beiden psychopathischen Mörder. Nicht alle überleben dieses ultimative Zusammentreffen von Gut und Böse. Wobei es einige natürlich auch nicht verdient haben.

| DIETMAR JACOBSEN

Titelangaben
Stephen King: Kein Zurück
Aus dem Amerikanischen von Bernhard Kleinschmidt
München: Wilhelm Heyne Verlag 2025
640 Seiten. 28 Euro
| Erwerben Sie diesen Band portofrei bei Osiander

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| Leseprobe
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